Franzen, Jonathan
guten Therapeuten. Brauchen könnte sie's. Das
und einen Ganztagsjob.»
«Ich frage
mich nur: Wo ist Walter?»
«Walter
schuftet sich halb tot, um genug Geld zu verdienen, damit sie den ganzen Tag
zu Hause hocken und die durchgedrehte Hausfrau spielen kann. Er ist für Jessica
ein guter Vater und für Joey so etwas
wie ein Realitätsprinzip. Ich würde sagen, er hat alle Hände voll zu tun.»
Walters
augenfälligste Eigenschaft, von seiner Liebe zu Patty abgesehen, war seine
Nettigkeit. Walter war einer dieser guten Zuhörer, die offenbar alle anderen
Menschen interessanter und eindrucksvoller finden als sich selbst. Er hatte
grotesk helle Haut, ein schwach ausgeprägtes Kinn und engelhaft gelocktes Haar,
und er trug seit eh und je dieselbe Drahtbrille mit den runden Gläsern. Seine
Laufbahn hatte er bei 3M als Anwalt
in der Rechtsabteilung begonnen, war dort jedoch nicht sehr erfolgreich gewesen
und daraufhin in den Unternehmensbereich Philanthropie und Wohltätigkeit
abgeschoben worden, eine Sackgasse der Firma, in der Nettigkeit als Vorzug
galt. In der Barrier Street
verteilte er ständig tolle Freikarten für das Guthrie-Theater und das St. Paul
Chamber Orchestra und
erzählte den Nachbarn von seinen Begegnungen mit Lokalmatadoren wie Garrison Keillor und Kirby Puckett und einmal sogar Prince. Erst kürzlich hatte er überraschend bei 3M gekündigt
und war Referent für Landnutzung bei der Naturschutzorganisation The
Nature Conservancy geworden. Niemand außer den
Paulsens hatte geahnt, dass er ein solches Maß an Unzufriedenheit hegte, aber
Walter begeisterte sich für die Natur keinen Deut weniger als für die Kultur,
und die einzige nach außen hin sichtbare Veränderung in seinem Leben war die,
dass er an den Wochenenden nun viel seltener zu Hause war.
Das mag
einer der Gründe gewesen sein, warum er sich nicht, wie man vielleicht hätte
erwarten können, in Pattys Streit mit Carol Monaghan einmischte. Wenn man ihn
geradeheraus fragte, was er davon hielt, kicherte er nervös. «Ich bin da eine
Art unparteiischer Beobachter», sagte er. Und ein unparteiischer Beobachter
blieb er den ganzen Frühling und Sommer von Joeys zweitem Collegejahr hindurch bis in den Herbst, als Jessica zum
Studieren an die Ostküste ging und Joey aus seinem
Elternhaus aus- und bei Carol, Blake und Connie einzog.
Der Umzug
war ein erstaunlicher Akt der Rebellion und ein Dolchstoß in Pattys Herz - der Anfang vom Ende ihres Lebens in Ramsey Hill. Joey hatte den
Juli und den August in Montana verbracht, um auf der Hochlandfarm eines von
Walters wichtigsten Nature-Conservancy-Sponsoren zu arbeiten, und war mit
breiten, männlichen Schultern und fünf Zentimeter größer als zuvor zurückgekommen.
Walter, der für gewöhnlich kein Angeber war, hatte den Paulsens bei einem
Picknick im August anvertraut, der Sponsor habe ihn angerufen und gesagt, Joeys Furchtlosigkeit und Ausdauer beim Kälberfang und Schafbad hätten ihn
«umgehauen». Patty dagegen hatte, auf demselben Picknick, schon diesen vor
Kummer leeren Blick. Im Juni, bevor Joey nach
Montana fuhr, hatte sie ihn noch einmal mit zum Namenlosen See genommen, damit
er ihr bei Ausbesserungsarbeiten am Haus zur Hand ging, und der einzige
Nachbar, der sie dort besucht hatte, beschrieb einen fürchterlichen Nachmittag,
an dem Mutter und Sohn sich gegenseitig wieder und wieder, auf offener Bühne,
tief verletzt hätten, bei einem Streit, in dessen Verlauf Joey Patty wegen ihrer Eigenarten verspottet und ihr schließlich ins
Gesicht gesagt habe, sie sei «dumm», worauf Patty «Hahaha!» geschrien habe,
«dumm! Mein Gott, Joey! Deine
Reife verblüfft mich immer wieder! Die eigene Mutter vor anderen Leuten dumm
nennen, das ist ja so ein sympathischer Zug! Was bist du bloß für ein großer,
starker, unabhängiger Mann!»
Gegen Ende
des Sommers hatte Blake die Arbeiten am Mehrzweckraum weitgehend abgeschlossen
und staffierte ihn mit so Blakeschen Gerätschaften wie PlayStation, Kicker- und
Air-Hockey-Tischen, gekühltem Bierfass, Großbildfernseher, verstellbaren
Lehnsesseln sowie einem Vikings-Kronleuchter aus Buntglas aus. Den Nachbarn
blieb nur, sich auszumalen, mit welchem Sarkasmus Patty diese Annehmlichkeiten
vom Abendbrottisch aus bedachte und wie Joey seine
Mutter für dumm und unfair erklärte und Walter ihm wütend Entschuldigungen
gegenüber Patty abverlangte, aber den Abend, an dem Joey zur Nachbarsfamilie überlief, brauchte sich niemand auszumalen, weil Carol Monaghan ihn
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