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Franzen, Jonathan

Franzen, Jonathan

Titel: Franzen, Jonathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Freihheit
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mit Kindern keine Geduld.
Das weißt du doch noch, oder?»
    «Ich weiß
noch, dass du dich oft über dich selber täuschst. Ich finde, du glaubst an viel
mehr, als du es dir selber eingestehst. Gerade deiner Integrität wegen bist du
eine Kultfigur.»
    «Integrität
ist ein neutraler Wert. Auch Hyänen haben eine Integrität. Sie sind Hyäne
pur.»
    «Was heißt
das, hätte ich dich nicht anrufen sollen?», sagte Walter mit einem Beben in der
Stimme. «Eigentlich wollte ich dich nicht belästigen, aber Lalitha hat mich
dazu überredet.»
    «Nein, es
ist gut, dass du angerufen hast. Es ist zu viel Zeit vergangen.»
    «Ich
dachte wohl, du bist uns entwachsen oder so etwas. Ich weiß ja, dass ich nicht
besonders cool bin. Ich dachte, du bist fertig mit uns.»
    «Das tut
mir leid, Mann. Ich hatte einfach viel zu tun.»
    Doch nun
geriet Walter aus der Fassung, fast kamen ihm die Tränen. «Es hatte fast den
Anschein, als wäre ich dir peinlich. Was ich ja verstehe, aber trotzdem ist es
nicht gerade schön. Ich dachte immer, wir sind Freunde.»
    «Ich habe
doch gesagt, es tut mir leid», sagte Katz. Er war aufgebracht, was sowohl mit
Walters Gefühlen als auch mit der Ironie oder Ungerechtigkeit zu tun hatte,
sich für seinen Versuch, ihm einen Gefallen zu tun, zweimal entschuldigen
zu müssen. Sich nie zu entschuldigen war sein Grundsatz schlechthin.
    «Ich weiß
nicht, was ich erwartet habe», sagte Walter. «Vielleicht ein wenig Anerkennung
dafür, dass Patty und ich dir geholfen haben. Dass du die ganzen Songs im Haus
meiner Mutter geschrieben hast. Dass wir deine ältesten Freunde sind. Ich habe
nicht vor, darauf herumzureiten, aber ich will reinen Tisch machen und dir
sagen, wie ich mich gefühlt habe, damit ich mich nicht länger so fühlen muss.»
    Die
zornige Wallung von Katz' Blut entsprach genau den Prophezeiungen seines
Schwanzes. Ich werde dir jetzt einen Gefallen der anderen Art erweisen, alter
Freund, dachte er. Wir werden eine unerledigte Sache erledigen, und du und das
Mädchen, ihr werdet mir dafür dankbar sein.
    «Es ist
gut, reinen Tisch zu machen», sagte er.
     
    Frauenland
     
    Während seiner
Kindheit und Jugend in St. Paul hatte Joey Berglund zahllose Bestätigungen dafür erhalten, dass ihm
ein glückliches Leben vorherbestimmt war. So wie Halfback-Stars von einem Lauf
übers offene Feld sprechen, davon, wie es sich anfühlt, wenn man sich durch
eine zeitlupenhaft agierende Abwehr in vollem Tempo durchtankt und
durchschlängelt und das gesamte Spielfeld so übersichtlich und blitzartig
erfassbar wie ein Videospiel im Anfängermodus ist - genauso hatte sich jede
Facette seines Lebens während der ersten achtzehn Jahre angefühlt. Die Welt
hatte ihm gegeben, und er hatte gern genommen. Als Erstsemester kam er mit
idealer Kleidung und Frisur nach Charlottesville und
stellte fest, dass das College ihn mit einem idealen Zimmergenossen aus NoVa
(wie die Einheimischen die in Virginia gelegenen Washingtoner Vororte nannten)
zusammenspannt hatte. Zweieinhalb Wochen lang hatte er den Eindruck, das
College werde eine Erweiterung der Welt sein, wie er sie immer schon gekannt
hatte, nur noch besser. Er war so davon überzeugt - fand es so
selbstverständlich -, dass er am Morgen des 11. September Jonathan, seinen
Zimmergenossen, allein am Fernseher verfolgen ließ, wie World Trade Center und
Pentagon brannten, während er zu seiner Econ 201-Vorlesung über die Grundlage
der Mikro-Ökonomie eilte. Erst als er am großen Hörsaal ankam und sah, dass er
nahezu leer war, begriff er, dass sich eine wirklich ernste Panne ereignet
hatte.
    Sosehr er
es in den Wochen und Monaten, die darauf folgten, auch versuchte, er konnte
sich nicht mehr daran erinnern, was er gedacht hatte, als er den
halbverlassenen Campus überquerte. Diese Ahnungslosigkeit war äußerst untypisch
für ihn, und der tiefe Verdruss, den er auf den Stufen des Chemie-Gebäudes dann
empfand, wurde zur Saat seines zutiefst persönlichen Grolls
gegen die Terrorangriffe. Später, als sich seine Schwierigkeiten türmten, war
ihm, als wäre ausgerechnet sein Glück, das als sein Geburtsrecht zu betrachten
die Kindheit ihn gelehrt hatte, von einem höherwertigen Pech ausgestochen
worden, das so abwegig war, dass es nicht einmal real erschien. Er wartete und
wartete darauf, dass dieses Abwegige, dieser Betrug, entlarvt und vor der Welt
richtiggestellt würde, damit er das College-Erlebnis haben konnte, mit dem er
gerechnet hatte. Als es anders kam, wurde er

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