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Franzen, Jonathan

Franzen, Jonathan

Titel: Franzen, Jonathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Freihheit
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der allein zu sein du zu jung bist, in einer
Stadt, die wiederholt von Terroristen angegriffen wurde, und zwar nicht nur
für eine Nacht oder zwei, sondern für Wochen, das zieht
geradezu zwangsläufig nach sich, dass deine Mutter sich die gesamte Zeit über
Sorgen macht.»
    «Dad, die
Gegend ist absolut sicher. Wir reden hier über Greenwich Village.»
    «Na,
jedenfalls hast du ihre Feiertage ruiniert. Und du wirst auch ihre letzten Tage
in diesem Haus ruinieren. Ich weiß nicht, warum ich von dir immer noch mehr
erwarte, aber du bist einem Menschen gegenüber, der dich mehr liebt, als du es
dir überhaupt vorstellen kannst, brutal selbstsüchtig.»
    «Und warum
kann sie das nicht selber sagen?», sagte Joey. «Warum musst du das sagen? Wie
soll ich denn wissen, ob das überhaupt stimmt?»
    «Wenn du
nur ein Fünkchen Phantasie hättest, wüsstest du, dass es stimmt.»
    «Nicht,
wenn sie es nie selber sagt! Wenn du ein Problem mit mir hast, warum sagst du
mir dann nicht, was dein Problem
ist, statt ständig über ihre Probleme zu reden?»
    «Weil ich
mir, offen gesagt, nicht so große Sorgen mache wie sie», sagte sein Vater. «Ich
glaube zwar nicht, dass du so clever bist, wie du dich selber siehst, ich
glaube auch nicht, dass du dir der vielen Gefahren auf der Welt bewusst bist.
Aber ich glaube sehr wohl, dass du clever genug bist, um auf dich aufpassen zu
können. Solltest du jemals in Schwierigkeiten geraten, dann hoffe ich doch,
dass wir die Ersten sind, die du anrufst. Wenn nicht, dann hast du eben deine
Wahl getroffen, und ich kann daran nichts ändern.»
    «Na -
danke», sagte Joey, nur teilweise sarkastisch.
    «Den Dank
kannst du dir sparen. Ich habe sehr wenig Respekt vor dem, was du tust. Ich
nehme eben zur Kenntnis, dass du achtzehn bist und tun und lassen kannst, was
du willst. Was mich umtreibt, ist meine persönliche Enttäuschung, dass eins
unserer Kinder es nicht über sich bringt, netter zu seiner Mutter zu sein.»
    «Dann frag
sie doch, warum nicht!», entgegnete Joey heftig. «Sie weiß
es, warum nicht! Sie weiß es verdammt genau,
Dad. Wo du schon so großartig um ihr Wohlergehen und so weiter besorgt bist,
warum fragst du sie nicht, statt mir auf die
Nerven zu gehen?»
    «Red nicht
so mit mir.»
    «Dann red du nicht so
mit mir.»
    «Na schön,
dann nicht.»
    Sein Vater
schien froh, das Thema fallenzulassen, und auch Joey war froh. Er genoss es,
sich cool vorzukommen und über sein Leben zu bestimmen, verstörend aber war die
Entdeckung, dass da noch dieses andere in ihm steckte, dieses Wutreservoir,
dieser Komplex von Familiengefühlen, der plötzlich explodieren und über ihn bestimmen
konnte. Die Zornesworte, die er seinem Vater gesagt hatte, hatten vorgeformt
geklungen, als wäre rund um die Uhr noch ein zweites, gekränktes Ich in ihm,
zumeist unsichtbar, aber eindeutig voll empfindungsfähig und bereit, sich jeden
Moment in Form von unwillkürlich formulierten Sätzen Luft zu machen. Das führte
ihn zu der Frage, welches denn nun sein wirkliches Ich war; und das war sehr
verstörend.
    «Solltest
du deine Meinung ändern», sagte sein Vater, als sie ihren begrenzten Vorrat an
Weihnachtsgeplauder erschöpft hatten, «würde ich dir sehr gern ein Flugticket
kaufen, damit du für ein paar Tage herkommen kannst. Das würde deiner Mutter
alles bedeuten. Und mir auch. Ich würde mich auch darüber freuen.»
    «Danke»,
sagte Joey, «aber, also, ich kann gar nicht. Ich hab die Katzen hier.»
    «Die
kannst du auch ins Tierheim bringen, das kriegt deine Tante gar nicht mit. Das
bezahle ich dann auch.»
    «Okay,
vielleicht. Wahrscheinlich nicht, aber vielleicht.»
    «Na gut,
dann schöne Weihnachten», sagte sein Vater. «Mom wünscht dir auch schöne
Weihnachten.»
    Joey
hörte, wie sie es im Hintergrund rief. Warum nur ging
sie nicht wieder dran und sagte es ihm selbst? Das schien ihm doch ziemlich
vernichtend für sie zu sein. Wieder so ein sinnloses Eingeständnis ihrer
Schuld.
    Obwohl Abigails Wohnung nicht klein war, gab es doch keinen einzigen
Quadratzentimeter, den sie nicht besetzt hielt. Die Katzen patrouillierten
darin wie Generalbevollmächtigte und luden überall Haare ab. Der
Schlafzimmerschrank war mit Hosen und Pullovern in wilden Stapeln dicht
bepackt, die die hängenden Mäntel und Kleider stauchten, und die Schubladen
waren derart vollgestopft, dass sie sich nicht mehr öffnen ließen. Ihre CDs,
durchweg nicht anzuhörendes Chanteusen- und New-Age-Gesäusel, standen im Regal
in

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