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Franzen, Jonathan

Franzen, Jonathan

Titel: Franzen, Jonathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Freihheit
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zehnmal schlimmer. Das
Land, das jeden idiotischen Casting-Auftritt in American
Idol minutiös verfolgte, während die Welt in Flammen aufging,
verdiente in Walters Augen jedwede Albtraumzukunft, die es erwarten mochte.
    Natürlich
wusste er, dass es falsch war, so zu denken - wenn auch nur, weil er nahezu
zwanzig Jahre lang, in St. Paul, nicht so gedacht hatte. Er wusste um den engen
Zusammenhang von Wut und Depression, wusste, dass es psychisch ungesund war, so
ausschließlich von apokalyptischen Szenarien besessen zu sein, wusste, wie die
Besessenheit sich in seinem Fall aus der Frustration über seine Frau und der
Enttäuschung über seinen Sohn speiste. Wäre er wirklich allein mit seiner Wut
gewesen, er hätte sie wahrscheinlich nicht ausgehalten.
    Doch
Lalitha konnte ihm in allem folgen. Sie teilte seine Ansichten und fand wie
er, dass Eile geboten war. In seinem ersten Gespräch mit ihr hatte sie ihm von
der Reise zu ihrer Familie nach Westbengalen erzählt, die sie mit vierzehn
Jahren unternommen hatte. Sie war genau im richtigen Alter gewesen, um von der
räumlichen Enge und dem Leid und Elend des menschlichen Lebens in Kalkutta
nicht nur traurig und entsetzt, sondern angewidert zu sein.
Ihr Angewidertsein hatte sie nach ihrer Rückkehr in die Staaten in den
Vegetarismus getrieben und zu diversen Umweltstudien veranlasst, unter
besonderer Berücksichtigung, später auf dem College, der Situation der Frauen
in Entwicklungsländern. Obwohl sie nach ihrem Abschluss eine gute Stelle bei
der Nature Conservancy ergattert
hatte, war sie mit dem Herzen - genau wie Walter in jungen Jahren - bei Themen
wie Bevölkerungswachstum und Nachhaltigkeit geblieben.
    Gewiss,
Lalitha hatte noch eine ganz andere Seite, eine, die für starke, traditionelle
Männer empfänglich war. Ihr Freund Jairam, ein angehender Herzchirurg, war dick
und irgendwie hässlich, aber auch arrogant und karrieristisch, und Lalitha war
keineswegs die erste attraktive junge Frau, die nach Walters Beobachtungen ihre
Reize bei einem wie Jairam parkte, um nicht auf Schritt und Tritt angesprochen
zu werden. Aber sechs Jahre mit Jairams eskalierendem Unsinn schienen sie nun
endlich von ihm zu heilen. Das einzige wirklich Überraschende an der Frage,
die sie Walter an diesem Abend gestellt hatte, der Frage nach der
Sterilisierung, war gewesen, dass sie überhaupt das Bedürfnis gehabt hatte, sie
zu stellen. Ja, warum hatte sie es ihn gefragt?
    Er
schaltete den Fernseher aus und ging in ihrem Zimmer auf und ab, um die Sache
eingehender zu überdenken, und schon bald kam ihm die Antwort in den Sinn: Sie
hatte gefragt, ob er womöglich ein Kind mit ihr haben wollte. Oder, genauer,
vielleicht hatte sie ihn davor gewarnt, dass sie, selbst wenn er es wollte,
womöglich keines wollen würde.
    Und das
Kranke daran war - wenn er es sich ehrlich eingestand -, dass er tatsächlich
ein Kind mit ihr wollte. Nicht dass er Jessica nicht vergötterte und, auf
abstraktere Weise, Joey nicht liebte. Aber ihre Mutter kam ihm plötzlich sehr
weit entfernt vor. Patty war eine Frau, die ihn womöglich gar nicht so
unbedingt hatte heiraten wollen, eine Frau, von der ihm überhaupt erst durch Richard zu Ohren
gekommen war, der an einem Sommerabend in Minneapolis vor langer Zeit erwähnt hatte, dass die Frau, mit der er schlief, mit
einem Basketballstar zusammenwohnte, der seine Vorstellungen von Sportlerinnen
über den Haufen warf. Patty hätte sich fast mit Richard zusammengetan, und aus
der erfreulichen Tatsache, dass sie es nicht getan hatte - dass sie stattdessen
Walters Liebe erlegen war -, war ihr ganzes gemeinsames Leben erwachsen, ihre
Ehe, ihr Haus, ihre Kinder. Sie waren immer ein gutes, aber auch merkwürdiges
Paar gewesen; nun schienen sie immer weniger zu harmonieren. Wohingegen Lalitha
eine echte Gleichgesinnte war, eine Seelengefährtin, die ihn zutiefst
bewunderte. Sollten sie je einen Sohn haben, dann wäre dieser Sohn wie er.
    Auf das
heftigste aufgewühlt, ging er weiter im Zimmer auf und ab. Während seine
Aufmerksamkeit von Alkohol und rassistischen Proleten abgelenkt gewesen war,
hatte sich der Abgrund zu seinen Füßen immer weiter aufgetan. Jetzt überlegte
er schon, ob er mit seiner Assistentin Kinder haben
wollte! Und gab nicht einmal vor, dass er es nicht überlegte! Und das war alles
innerhalb der letzten Stunde so
gekommen. Das wusste er genau, weil er, als er ihr riet, sich die Eileiter
nicht abbinden zu lassen, ganz bestimmt nicht an sich gedacht

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