Franzen, Jonathan
stellen. Lalitha hat schon ein paar großartige Ideen.»
«Zweifellos»,
sagte Jessica.
«Sehr gut.
Wir sprechen morgen wieder.»
«Okay, ich
liebe dich, Dad.»
«Ich dich
auch, mein Schatz.»
Er ließ
das Telefon aus der Hand gleiten und lag eine Weile lautlos weinend da, sodass
das billige Bett leicht bebte. Er wusste nicht, was er tun, wusste nicht, wie
er leben sollte. Alles Neue, dem er im Leben begegnete, trieb ihn in eine
Richtung, die ihn von ihrer Richtigkeit vollkommen überzeugte, aber dann
tauchte schon wieder das nächste Neue auf und trieb ihn in die entgegengesetzte
Richtung, die ebenfalls richtig schien. Es gab kein Drehbuch, das alles
regelte: Er kam sich vor wie eine rein reaktive Flipperkugel in einem Spiel,
dessen einziges Ziel es war, um des Am-Leben-Bleibens willen am Leben zu
bleiben. Seine Ehe wegzuwerfen und Lalitha zu folgen war bis zu dem Moment
unwiderstehlich gewesen, als er in sich, nach Art von Jessicas älterem
Kollegen, einen jener überkonsumierenden amerikanischen Männer erkannte, die
sich zu mehr und mehr und mehr berechtigt fühlten: dem Moment, als er den
romantischen Imperialismus darin ausmachte, dass er sich in etwas frisches
Asiatisches verliebt hatte, nachdem die heimischen Vorräte erschöpft waren.
Dasselbe galt für den Kurs, den er zweieinhalb Jahre lang, überzeugt von der
Solidität seiner Argumente und der Richtigkeit seiner Mission, der Stiftung
vorgegeben hatte, nur um an diesem Vormittag in Charleston zu spüren, dass ihm
nichts als schreckliche Fehler unterlaufen waren. Und auch mit der Initiative
zur Überbevölkerung war es dasselbe: Was für eine bessere Lebensweise konnte
es denn geben, als sich auf die wichtigste Herausforderung seiner Zeit zu
stürzen? Eine Herausforderung, die ihm aus der Luft gegriffen und fruchtlos
erschien, sobald er an seine Lalitha mit abgebundenen Eileitern dachte. Wie
sollte er leben?
Er
trocknete sich die Augen und riss sich zusammen, als Lalitha aufstand, zu ihm
kam und ihm eine Hand auf die Schulter legte. Ihr Atem roch süßlich nach
Martini. «Mein Chef», sagte sie sanft und streichelte ihm über die Schulter.
«Du bist der beste Chef der Welt. So ein wunderbarer Mann. Morgen früh stehen
wir auf, dann ist alles gut.»
Er nickte
und schniefte und ächzte ein wenig. «Bitte, lass dich nicht sterilisieren»,
sagte er.
«Nein»,
sagte sie und streichelte ihn weiter. «Heute Abend nicht mehr.»
«Es hat
alles keine Eile. Alles muss langsamer
werden.»
«Langsam,
langsam, ja. Alles wird ganz langsam gehen.» Hätte sie ihn geküsst, dann hätte
er sie wiedergeküsst, doch sie streichelte nur immer weiter seine Schulter, und
nach einer Weile war er in der Lage, einen Anschein von Professionalität wiederherzustellen.
Lalitha sah wehmütig, aber nicht allzu enttäuscht aus. Sie gähnte und reckte
die Arme wie ein verschlafenes Kind. Walter ließ sie mit ihrem Sandwich allein
und ging mit seinem Steak nach nebenan, wo er es mit schuldbewusster Wildheit
verschlang, indem er es in den Händen hielt und mit den Zähnen Fetzen
herausriss, sodass sein Kinn ganz fettig wurde. Wieder dachte er an Jessicas
Kollegen Simon, den schmierigen Schänder.
Davon und von
der Einsamkeit und Sterilität seines Zimmers ernüchtert, wusch er sich das
Gesicht und widmete sich zwei Stunden lang seinen E-Mails, während Lalitha in
ihrem ungeschändeten Zimmer schlief und träumte - wovon? Er konnte es sich
nicht vorstellen. Allerdings hatte er das Gefühl, dass sie sich, indem sie so
nahe an den Rand des Abgrunds getreten und dann so ungeschickt zurückgewichen
waren, gegen die Gefahr, einander noch einmal so nahe zu kommen, geimpft
hatten. Und das war ihm jetzt ganz recht. So war er ja auch gewohnt zu leben:
mit Disziplin und Selbstverleugnung. Er fand Trost darin, dass es lange dauern
würde, bis sie wieder zusammen unterwegs waren.
Cynthia, seine Pressefrau, hatte ihm letzte Fassungen der vollständigen
Presseerklärung sowie der vorläufigen Mitteilung gemailt, die am Mittag des
nächsten Tages rausgehen sollte, sobald der Abriss von Forster Hollow begonnen hatte. Außerdem war da noch eine knappe, bedrückt klingende
Nachricht von Eduardo Soquel, dem Verbindungsmann der Stiftung in Kolumbien,
der bestätigte, er sei bereit, die quinceanera seiner
ältesten Tochter am Sonntag sausen zu lassen und nach Washington zu fliegen.
Walter brauchte Soquel bei der Pressekonferenz am Montag neben sich, um das
Panamerikanische des Parks zu unterstreichen
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