Franzen, Jonathan
an
denen ihr Vater beteiligt war. Bei der einen ging es um einen arbeitslosen Mann
aus Yonkers, der am Puerto Rican Day zu viel
getrunken hatte und sich dann auf die Suche nach dem Bruder seiner Frau begab,
um ihn mit dem Messer abzustechen, ihn aber nicht fand und stattdessen in einer
Kneipe einen Fremden attackierte. Nicht nur ihr Vater, sondern auch der
Richter und sogar der Staatsanwalt schienen von der Glücklosigkeit und Blödheit
des Angeklagten amüsiert zu sein. Immer wieder ging ein Beinahe-Augenzwinkern
zwischen ihnen hin und her. Als wären Not, Versehrung und Haftstrafen bloß Unterschichts-Kabinettstückchen,
allesamt dazu da, ihren ansonsten langweiligen Tag etwas aufzupeppen.
Auf dem
Nachhauseweg in der Bahn fragte Patty ihren Vater, auf wessen Seite er sei.
«Ha, gute
Frage», antwortete er. «Du musst wissen, dass mein Mandant lügt. Das Opfer
auch. Und auch der Kneipier. Die lügen allesamt. Natürlich hat mein Mandant das
Recht auf eine engagierte Verteidigung. Aber man muss dabei auch versuchen, der Gerechtigkeit zu dienen. Manchmal arbeiten
der Staatsanwalt, der Richter und ich genauso zusammen, wie der Staatsanwalt
und das Opfer zusammenarbeiten oder ich und der Angeklagte. Du weißt doch, dass
wir ein sogenanntes kontradiktorisches Rechtssystem haben, oder?»
«Ja.»
«Schön.
Manchmal haben der Staatsanwalt, der Richter und ich alle denselben Gegner. Wir
versuchen, die Fakten zu klären und ein Scheitern des Prozesses zu verhindern.
Aber das - hm. Das schreibst du besser nicht.»
«Ich
dachte, die Fakten zu klären ist die Aufgabe des großen Geschworenengerichts
und der Geschworenen.»
«Genau.
Schreib das. Prozess durch Geschworene deinesgleichen. Das ist wichtig.»
«Aber die
meisten deiner Mandanten sind doch unschuldig, oder?»
«Nur
wenige haben so schlimme Strafen verdient, wie man sie ihnen immer mal wieder
aufzubrummen versucht.»
«Aber viele
von ihnen sind doch vollkommen unschuldig, oder? Mommy sagt, sie haben Schwierigkeiten mit der Sprache, oder die Polizei
passt nicht genug auf, wen sie verhaftet, und es gibt Vorurteile gegen sie,
und sie haben zu wenig Chancen.»
«Das ist
alles absolut richtig, Pattyschatz. Trotzdem, hm. Deine Mutter kann manchmal
ein bisschen blauäugig sein.»
Patty
hatte gegen seinen Spott weniger einzuwenden, wenn dessen Zielscheibe ihre
Mutter war.
«Ich
meine, du hast diese Leute doch gesehen», sagte er zu ihr. «Mannomann. El ron me puso loco.»
Ein
wichtiger Aspekt von Rays Familie war ihr Reichtum. Seine Eltern wohnten auf
einem großen ererbten Anwesen im hügeligen Nordwesten von New Jersey, in einem
hübschen Steinhaus der klassischen Moderne, das angeblich von Frank Lloyd Wright entworfen worden war und voller unbedeutender Werke berühmter
französischer Impressionisten hing. Jeden Sommer fand sich der gesamte
Emerson-Clan dort am See zu Ferienpicknicks zusammen, an denen Patty meist nur
wenig Freude hatte. Ihr Großvater August fasste seine älteste Enkelin gern um
den Bauch und setzte sie sich auf den wippenden Oberschenkel - weiß Gott, was
für einen kleinen wohligen Schauder ihm das verschaffte; Pattys körperlichen Grenzen zollte er jedenfalls nicht besonders viel
Respekt. Seit sie in die siebte Klasse ging, musste sie außerdem mit Ray,
seinem Juniorpartner und dessen Frau auf dem großelterlichen Sandtennisplatz
Doppel spielen und sich in ihrem Tennisdress, knapp, wie er nun einmal war, von
dem Juniorpartner begaffen und seiner Augengrapscherei durcheinanderbringen und
verunsichern lassen.
Wie auch
Ray hatte ihr Großvater sich das Recht, im Privaten exzentrisch zu sein, durch
sein gemeinnütziges Wirken als Jurist erkauft; er hatte sich mit der
Verteidigung prominenter Wehrdienstverweigerer und Deserteure während dreier
Kriege einen Namen gemacht. In seiner freien Zeit, und davon hatte er viel,
baute er auf seinem Grundstück Trauben an und ließ sie in einem seiner Schuppen
vergären. Sein «Weingut» hieß, nach den weiblichen Wildhinterteilen, «Doe
Haunch» und gab in der Familie dauerhaft Anlass für Gelächter. Bei den
Ferienpicknicks schlappte August, eine seiner primitiv etikettierten Flaschen
in der Hand, in Latschen und hängenden Badehosen herum und schenkte seinen
Gästen, die ihre Gläser diskret ins Gras oder Gebüsch geleert hatten, nach.
«Was meint ihr?», fragte er. «Ist der Wein gut? Schmeckt er euch?» Er hatte etwas
von einem eifrigen kleinen Hobbywinzerjungen und etwas von einem Folterknecht
an
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