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Franzen, Jonathan

Franzen, Jonathan

Titel: Franzen, Jonathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Freihheit
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er gehört und von denen er gelesen hatte, war ihm die vage Erinnerung
geblieben, dass dies das Schreckliche daran war: dass man es «ein Mädchen
hinhalten» nannte. Eine Weile saß er in dem unveränderlichen lilagetönten
Straßenlicht und lauschte den Lastern auf der Interstate.
    «Entschuldige»,
sagte er schließlich. «Ich versuche immer noch, mir klarzuwerden, wie ich leben
soll.»
    «Das ist
in Ordnung. Du kannst dir noch Zeit nehmen.»
    Er nickte,
wobei er das Wort noch zur Kenntnis nahm.
    «Kann ich
dir trotzdem eine Frage stellen?», sagte sie.
    «Du kannst
mir tausend Fragen stellen.»
    «Na, jetzt
nur eine. Glaubst du, du könntest mich lieben?»
    Er
lächelte. «Ja, das glaube ich unbedingt.»
    «Mehr
brauche ich im Moment nicht zu wissen.» Und sie ließ den Motor an.
    Irgendwo
über dem Nebel wurde der Himmel blau. Lalitha fuhr auf den aus Beckley
herausführenden Straßen in höchst gesetzwidrigem Tempo, und Walter war es
zufrieden, aus dem Fenster zu schauen, ohne darüber nachzudenken, was mit ihm
geschah, gab sich einfach dem freien Fall hin. Dass der Laubwald der Appalachen
zu den gemäßigten Ökosystemen mit der höchsten Biodiversität der Welt gehörte
und in ihm eine Vielfalt an Baumarten, Orchideen und Süßwasser-Wirbellosen
beheimatet war, um deren Fülle die Hochebenen und sandigen Küsten ihn nur
beneiden konnten, wurde von den Straßen aus, auf denen sie unterwegs waren,
nicht sogleich ersichtlich. Das Land hier hatte sich selbst verraten: Seine
knorrige Topographie und sein Reichtum an abbaubaren Ressourcen hatten den
Egalitarismus von Jeffersons Freibauern behindert, vielmehr die Konzentration
von Oberflächen- und Mineralrechten in den Händen der Reichen aus anderen
Bundesstaaten gefördert und die mittellosen Einheimischen und ins Land geholten
Arbeiter an die Ränder verwiesen - ans Holzfällen, an die Arbeit in den Minen,
an erst prä- und später postindustrielle kümmerliche Existenzen auf Fleckchen
übriggebliebenen Landes, die sie, von demselben Paarungsdrang beseelt, wie er
nun Walter und Lalitha gepackt hielt, mit Generationen zu großer, dicht an
dicht lebender Familien übervölkert hatten. West Virginia war die
Bananenrepublik der Nation, ihr Kongo, ihr Guyana, ihr Honduras. Im Sommer
waren die Straßen halbwegs pittoresk, jetzt aber, da noch das Laub fehlte, sah
man die ganzen grindigen, mit Steinen übersäten Weiden, die schütteren
Kronendächer des jungen Sekundärwaldes, die ausgehöhlten Hänge und die vom
Bergbau geschundenen Bäche, die abgewrackten Scheunen und ungestrichenen
Häuser, die hüfttief in Plastik- und Metallmüll stehenden Wohnwagen, die
aufgerissenen Feldwege, die ins Nichts führten.
    Tiefer im
Land war die Szenerie weniger entmutigend. Abgeschiedenheit brachte
Erleichterung durch Menschenleere: Menschenleere bedeutete mehr von allem
anderen. Lalitha umkurvte schlingernd ein Raufußhuhn auf der Straße,
gewissermaßen ein Begrüßungsvogel, ein gefiederter Botschafter des guten
Willens, der zur Wertschätzung einer kräftiger betriebenen Aufforstung und
weniger verschandelter Höhen und klarerer Bäche des Wyoming County einlud. Sogar das Wetter heiterte sich für sie auf.
    «Ich will
dich», sagte Walter.
    Sie
schüttelte den Kopf. «Sag nichts weiter, ja? Auf uns wartet noch Arbeit. Machen
wir die erst mal, dann werden wir sehen.»
    Er war
versucht, sie zu bitten, an einem der rustikalen Picknickplätze entlang des
Black Jewel Creek (von dem der Nine
Mile Creek ein Hauptzufluss war) anzuhalten, doch es wäre
unverantwortlich, dachte er, sie erneut anzufassen, bevor er sicher wusste,
dass er dazu bereit war. Aufschub war erträglich, vorausgesetzt, die Belohnung
dafür war garantiert. Und die Schönheit des Landes dort oben, die liebliche,
sporengesättigte Feuchtigkeit der Vorfrühlingsluft, beruhigte ihn
außerordentlich.
    Kurz nach
sechs erreichten sie die Abzweigung nach Forster Hollow. Walter hatte auf der Nine Mile Road starken
Verkehr von Lastern und Erdbaumaschinen erwartet, doch kein Fahrzeug war zu
sehen. Stattdessen stießen sie auf tiefe Reifen- und Traktorfurchen im
Schlamm. Wo der Wald bis an die Straße herankam, lagen frisch abgerissene Äste
auf der Erde oder baumelten schlaff an den überwölbenden Bäumen.
    «Sieht
aus, als wäre jemand schon sehr früh da gewesen», sagte Walter.
    Lalitha
gab stoßweise Gas, ließ den Wagen im Schlamm schwänzeln, schlitterte gefährlich
nahe an die Straßenkante, um den größeren

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