Franzen, Jonathan
Weggang aus St.
Paul. Am nächsten Morgen rief er Kenny an und
erklärte sich bereit, bei dem Geschäft mitzumachen. Die große, neue Runde von
Irak-Verträgen werde erst im November rausgehen, sagte Kenny, daher solle Joey sein Herbstsemester genießen und einfach nur dafür
sorgen, dass bis dahin seine Finanzierung stehe.
In dem
Gefühl, schon jetzt reich zu sein, spendierte er sich eine Fahrkarte für den
Acela Express nach New York und kaufte auf dem Weg zu Abigails Wohnung eine Hundert-Dollar-Flasche Champagner. In den Zimmern stand
noch mehr herum als vorher, und er war froh, als er die Tür hinter sich zuzog
und mit dem Taxi zum La-Guardia fuhr, um Connie abzuholen; er hatte darauf
bestanden, dass sie flog und nicht den Bus nahm. Die ganze Stadt - die
Fußgänger in der Augusthitze halb nackt, Backsteine und Brücken bleich vom
Dunst - war wie ein Aphrodisiakum. Unterwegs zu seiner Freundin, die mit einem
anderen geschlafen hatte, aber wieder, Magnet zu Magnet, in sein Leben
zurückzischte, hätte er schon der König der Stadt sein können. Als er sie in
der Flughafenhalle kommen sah, schreckhaft den anderen Reisenden ausweichend,
als wäre sie so versunken, dass sie sie erst im letzten Moment bemerkte, fühlte
er sich an mehr reich als an Geld. Reich an Bedeutung, an Leben en
masse, an irren Chancen, die nur ergriffen werden mussten, an
ihrer beider Geschichte. Sie erblickte ihn und nickte, stimmte ihm in etwas zu,
was er noch gar nicht gesagt hatte, das Gesicht voller Freude und Staunen.
«Yeah! Yeah! Yeah!», sagte sie spontan, ließ den Ziehgriff ihres Koffers fallen
und prallte gegen ihn. «Yeah!»
«Yeah?»,
sagte er lachend.
«Yeah!»
Ohne sich
erst zu küssen, rannten sie zur Gepäckausgabe und zum Taxistand hinaus, wo
wundersamerweise niemand wartete. Hinten im Taxi schälte sie sich aus ihrer
verschwitzten Baumwollstrickjacke, kletterte auf seinen Schoß und schluchzte,
als käme sie oder hätte einen Anfall. Ihr Körper in seinen Armen wirkte völlig,
völlig neu. Manche der Veränderungen waren real - sie war ein bisschen weniger
spirrelig, ein bisschen fraulicher -, die meisten aber existierten nur in
seinem Kopf. Er war ihr für ihre Untreue unendlich dankbar. Seine Gefühle
waren so groß, dass es schien, als könnte ihnen nur ein Heiratsantrag gerecht
werden. Er hätte ihn ihr vielleicht sogar auf der Stelle gemacht, hätte er
nicht die merkwürdigen Male auf ihrem linken inneren Unterarm bemerkt. Auf
dessen weicher Haut verlief eine Serie gerader, paralleler Schnitte, jeder ungefähr
fünf Zentimeter lang, die dem Ellbogen am nächsten gelegenen schwach und
vollkommen verheilt, die auf das Handgelenk zulaufenden zunehmend frisch und
rot.
«Yeah»,
sagte sie, nass im Gesicht, und blickte verwundert auf die Narben. «Das habe
ich gemacht. Aber es ist schon wieder gut.»
Er fragte
sie, was passiert sei, obwohl er die Antwort kannte. Sie küsste ihn auf die
Stirn, küsste ihn auf die Wange, küsste ihn auf die Lippen und spähte ihm mit
ernster Miene in die Augen. «Keine Sorge, Baby. Das war nur zur Buße, es musste
sein.»
«0 Gott.»
«Joey, hör
mal. Hör mir mal zu. Ich war sehr vorsichtig und habe Alkohol auf die Klinge
getan. Ich musste mich für jeden Abend, an dem du nicht angerufen hast, einmal
schneiden. Am dritten Abend habe ich mich dreimal geschnitten und danach dann
einmal pro Abend. Gleich nach deinem Anruf habe ich aufgehört.»
«Und wenn
ich nicht angerufen hätte? Was hättest du dann gemacht? Dir die Pulsadern
aufgeschnitten?»
«Nein. Ich war
nicht selbstmordgefährdet. Das habe ich anstelle von solchen
Gedanken gemacht. Ich musste mir nur ein bisschen wehtun. Kannst du das
verstehen?»
«Und du
bist sicher, dass du nicht selbstmordgefährdet warst?»
«Das würde
ich dir niemals antun. Nie im Leben.»
Er strich
mit den Fingerspitzen über die Narben. Dann nahm er ihr noch unvernarbtes
Handgelenk und drückte es sich auf die Augen. Er war froh, dass sie
sich seinetwegen geschnitten hatte, er konnte nicht anders. Die Bahnen, auf
denen sie sich bewegte, waren rätselhaft, leuchteten ihm aber ein. Irgendwo in
seinem Kopf sang Bono, dass alles
gut war, alles gut.
«Und weißt
du, was echt unglaublich ist?», sagte Connie. «Bei fünfzehn habe ich aufgehört,
und genauso oft war ich dir untreu. Du hast mich genau am richtigen Abend
angerufen. Es war so etwas wie ein Zeichen. Und da.» Aus der Gesäßtasche ihrer
Jeans zog sie einen gefalteten Scheck. Er hatte die
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