Franzen, Jonathan
sich absentierte.
Ihre bittere Miene hätte Joyces Zwecken nicht gedient.
Kapitel 2: Beste
Freundinnen
Da sie
sich an ihren Bewusstseinszustand während der ersten drei Jahre am College
nicht erinnern kann, fürchtet die Autobiographin, dass sie sich einfach in
keinem Zustand der Bewusstheit befand. Es kam ihr zwar so vor, als ob sie wach
wäre, aber in Wirklichkeit muss sie
geschlafwandelt sein. Andernfalls ist schwer zu begreifen, weshalb sie sich,
um nur ein Beispiel zu nennen, so eng mit einem gestörten Mädchen anfreundete,
das letztlich ihre Stalkerin war.
Zum Teil,
auch wenn die Autobiographin das äußerst ungern zugibt, mag der Hochschulsport
der Big-Ten-Liga daran schuld gewesen sein, mitsamt der künstlichen Welt, die
er für seine studentischen Teilnehmer schuf - für die Jungen vor allem, in den
späten siebziger Jahren aber auch schon für die Mädchen. Patty fuhr im Juli
nach Minnesota, wo ein spezielles Sportlersommercamp stattfand, dem eine
vorzeitige, speziell für Sportler gedachte Orientierungswoche folgte, und bald
darauf wohnte sie in einem Sportlerwohnheim, freundete sich ausschließlich mit
Sportlern an, aß ausschließlich an Sportlertischen, tanzte auf Partys in einer
Sportlertraube aus Mannschaftskameradinnen und achtete darauf, sich für ja
keinen Kurs anzumelden, den nicht zahlreiche andere Sportler besuchten, mit
denen sie zusammensitzen und (falls die Zeit es zuließ) lernen konnte. Sportler
mussten nicht notwendigerweise so leben, aber an der University
of Minnesota tat es die Mehrheit, und Patty trieb es mit dem totalen
Sportlerdasein sogar noch weiter als die meisten, einfach weil
sie die Möglichkeit dazu hatte! Weil sie endlich aus Westchester entkommen war!
«Du kannst gehen, wohin du gehen willst», hatte
Joyce zu Patty gesagt, womit sie gemeint hatte: Es ist grotesk und einfach das
Letzte, an einer mittelmäßigen staatlichen Universität wie der von Minnesota
zu studieren, wo du doch so großartige Angebote sowohl von der Vanderbilt als auch
von der Northwestern hast (die im Übrigen auch für mich schmeichelhafter
wären). «Es ist ganz und gar deine Sache, und
wir werden dich unterstützen, egal, wie du dich entscheidest», hatte
Joyce gesagt, womit sie gemeint hatte: Gib nicht mir und Daddy die Schuld, wenn du dir durch törichte Entscheidungen dein Leben
ruinierst. Joyces offenkundige Aversion gegen die Universität von Minnesota,
nebst deren Entfernung von New York, war ein wesentliches Kriterium für Pattys Entschluss, genau dorthin zu gehen. Rückblickend erkennt die
Autobiographin in ihrem jüngeren Ich eine jener unglücklichen Heranwachsenden,
die so wütend auf ihre Eltern sind, dass sie sich einem Kult verschreiben
müssen, um netter, freundlicher, großherziger und fügsamer sein zu können, als
es ihnen zu Hause noch möglich ist. Und Pattys Kult war
nun zufällig Basketball.
Die erste
Nicht-Sportlerin, die Patty aus diesem Kult herauslockte und wichtig für sie
wurde, war Eliza, jenes
gestörte Mädchen, von dessen Gestörtheit Patty freilich zunächst keine Ahnung
hatte. Eliza war genau halb hübsch. Ganz oben
war ihr Gesicht hinreißend, und je weiter der Blick abwärtswanderte, desto
unansehnlicher wurde es. Sie hatte phantastisch dickes, lockiges braunes Haar,
verblüffend große Augen und eine durchaus noch ganz niedliche kleine Stupsnase,
aber die Mundpartie war auf eine unangenehme, an Frühgeborene erinnernde Weise
zusammengeknautscht und winzig, und sie hatte sehr wenig Kinn. Immer trug sie
ausgebeulte Cordhosen, die ihr auf die Hüften herunterrutschten, dazu in der
Herrenabteilung von Billigläden gekaufte enge, kurzärmelige Hemden, die sie nur
in der Mitte mit zwei, drei Knöpfen schloss, außerdem rote Keds und einen
weiten, avocadogrünen Lammfellmantel. Sie roch wie ein Aschenbecher, bemühte sich
aber, in Pattys Beisein
nur zu rauchen, wenn sie im Freien waren. Eine für Patty damals unsichtbare,
für die Autobiographin jedoch ganz unübersehbare Ironie lag darin, dass Eliza eine Menge mit Pattys kunstbeflissenen
jüngeren Schwestern gemein hatte. Sie besaß eine schwarze E-Gitarre und einen
teuren kleinen Verstärker, aber die paar Male, die sie auf Pattys Drängen hin in ihrer Gegenwart spielte, wurde Eliza wütend auf sie, was sonst so gut wie nie vorkam (jedenfalls nicht am
Anfang). Sie sagte, Patty setze sie unter Druck und mache sie verlegen,
deshalb greife sie immer schon nach wenigen Akkorden ihres Songs daneben. Sie
forderte
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