Franzen, Jonathan
dunklen Seite der politischen Rechten. Seiner Frau gegenüber
verhielt er sich liebevoll und dankbar, bei seinen Freunden und Veteranenkameraden
war er für seine Großzügigkeit und Loyalität berühmt, und dennoch häuften sich
bei ihm, je älter er wurde, brodelnde Ausbrüche des Berglund'schen Grolls. Er
hasste die Schwarzen, die Indianer, die Gebildeten, die Snobs und besonders die
Bundesregierung, und er liebte seine Freiheiten (zu trinken, zu rauchen, mit
seinen Kumpeln in einer Eisfischerhütte zusammenzuhocken) desto inniger, weil
sie so bescheiden waren. Gemein war er zu Dorothy nur, wenn sie ihm mit verzagter Besorgtheit - denn vor allem gab sie
Einar und nicht Gene für dessen Unzulänglichkeiten die Schuld - empfahl, doch
weniger zu trinken.
Genes
Erbteil an Einars Nachlass war, wenngleich durch die selbstgehässigen
Bedingungen von Einars Verkauf seiner Firma erheblich geschmälert, immerhin so
groß, dass der Erwerb des kleinen Motels an der Straße, dessen Besitz und
Betreibung er sich lange als «nicht übel» vorgestellt hatte, in den Bereich des
Machbaren rückte. Das Whispering Pines hatte, als
Gene es kaufte, ein löcheriges Abwasserrohr und ein schwerwiegendes Schimmelproblem
und stand schon damals zu nahe am Bankett eines Highways, der stark von
Erzlastern befahren war und bald verbreitert werden sollte. Dahinter tat sich
eine Schlucht voller Müll und eifriger junger Birken auf, von denen eine durch
einen zerbeulten Einkaufswagen wuchs, der sie schließlich würgte und verkümmern
ließ. Gene hätte wissen müssen, dass bestimmt noch ein freundlicheres Motel in
der Gegend angeboten worden wäre, hätte er nur ein wenig Geduld gehabt. Doch
schlechte Geschäftsentscheidungen entwickeln ihre eigene Dynamik. Um klug zu
investieren, hätte er ein ehrgeizigerer Mensch sein müssen, und da er dieser
Mensch nicht war, wollte er seinen Irrtum unbedingt verschmerzen, wollte seine
ganze Energie aufbieten, um zu vergessen, wie viel er ausgegeben hatte, es buchstäblich
zu vergessen und eine Summe in Erinnerung zu behalten, die der entsprach, die
er später gegenüber Dorothy angeben
sollte. Denn ein Unglück bringt, wenn es das richtige ist, am Ende ja auch eine
Art Glück mit sich. Gene brauchte nun keine künftige Enttäuschung mehr zu
fürchten, weil er sie längst hinter sich hatte; diese Hürde hatte er genommen,
hatte sich zum Daueropfer der Welt gemacht. Er nahm eine erdrückende zweite
Hypothek für ein neues Abwassersystem auf, und jede spätere Katastrophe, groß
wie klein - eine Kiefer fiel durchs Bürodach, ein bar zahlender Gast in Zimmer
24 putzte Zander auf der Tagesdecke, das Kein im Zimmer - frei -Neonschild brannte fast ein
ganzes Vierter-Juli-Wochenende lang, bis Dorothy es endlich
bemerkte und ausschaltete -, war nur eine weitere Bestätigung seiner Sicht der
Welt und seines kläglichen Platzes darin.
In den
ersten Sommern im Whispering Pines kamen
Genes bessergestellte Geschwister mit ihren Familien aus anderen Staaten und
blieben für eine Woche oder zwei zu speziellen Familienkonditionen, nach deren
Aushandlung alle unzufrieden waren. Walters Cousins und Cousinen nahmen den
tanninfleckigen Swimmingpool in Beschlag, seine Onkel halfen Gene, den
Parkplatz zu versiegeln oder den erodierenden Hang hinter dem Grundstück mit
Eisenbahnschwellen abzustützen. In der insektenverseuchten Schlucht bei den
Überresten des zerbeulten Einkaufswagens erzählte Lief, Walters weltläufiger
Cousin aus Chicago, aufschlussreiche und fesselnde Geschichten aus den Vororten
der Großstadt; am denkwürdigsten und besorgniserregendsten fand Walter die
eines Achtklässlers aus Oak Park, der
es geschafft hatte, dass ein Mädchen sich nackt mit ihm auszog, dann aber nicht
recht wusste, wie es weitergehen sollte, und ihr über die Beine pinkelte. Weil
Walters Cousins aus der Stadt ihm viel mehr ähnelten als seine Brüder, waren
diese ersten Sommer die glücklichsten seiner Kindheit. Jeder Tag brachte neue
Abenteuer und Missgeschicke: Hornissenstiche, Tetanusspritzen, fehlgezündete
Flaschenraketen, grässliche Fälle von Giftefeu-Reizungen, Beinahe-Ertrunkene.
Und spätabends, wenn der Verkehr nachgelassen hatte, wisperten die Kiefern vor
dem Büro tatsächlich.
Doch schon
bald sprachen die angeheirateten Berglunds ein kollektives Machtwort, und die
Besuche endeten. Für Gene war das nur noch ein weiterer Beweis dafür, dass
seine Geschwister auf ihn herabschauten, sich für sein Motel zu fein fanden
Weitere Kostenlose Bücher