Franzen, Jonathan
hatte
richtig vorausgesehen, dass eine solche Lounge sein Ende wäre.
Der große
Trost in Walters Kindheit war, neben der Schule, die Familie seiner Mutter
gewesen. Ihr Vater war Arzt in einer Kleinstadt, und unter ihren Geschwistern
und Tanten und Onkeln waren Universitätsprofessoren, zwei miteinander
verheiratete ehemalige Varietekünstler, ein Amateurmaler, zwei Bibliothekare
und mehrere Junggesellen, die möglicherweise schwul waren. Dorothys Twin-Cities-Verwandtschaft lud Walter zu aufregenden Museums-, Musik-
und Theaterwochenenden ein; diejenigen, die noch immer in der Iron-Range-Region
im Nordosten lebten, gaben ausgedehnte Sommerpicknicks und in den Ferien
Partys. Sie spielten gern Scharaden und altmodische Kartenspiele wie Canasta;
sie hatten Klaviere und veranstalteten Singabende. Sie waren alle so ungeheuer
harmlos, dass selbst Gene sich in ihrer Gegenwart entspannte, ihre Vorlieben
und politischen Einstellungen als exzentrisch verlachte und sie wegen ihrer
Nutzlosigkeit bei männlichen Betätigungen freundschaftlich bedauerte. Sie
brachten eine domestizierte Seite an ihm zur Geltung, die Walter gefiel, die er
aber sonst nur sehr sel ten zu Gesicht
bekam, außer an Weihnachten, wenn die Herstellung von Naschwerk anstand.
Die
Herstellung des Naschwerks war zu aufwendig und zu wichtig, um sie allein Dorothy und Walter zu überlassen. Sie begann am ersten Adventssonntag und
setzte sich fast den ganzen Dezember hindurch fort. Aus tiefen Schränken kamen
nekromantische Metallwaren zum Vorschein: eiserne Kessel und Gestelle, schwere,
Nüsse verarbeitende Geräte aus Aluminium. Große saisonale Zuckerdünen und
Dosentürme zeigten sich. Etliche Kubikdezimeter ungesüßter Butter wurden mit
Milch und Zucker (für Fondant ohne Schokolade) oder nur mit Zucker (für Dorothys berühmte Weihnachtstoffees) geschmolzen oder von Walter auf die
Reserveschwadronen der Pfannen und flachen Kasserollen gestrichen, die seine
Mutter über die Jahre bei Ramschverkäufen erworben hatte. Es gab ausgedehnte
Diskussionen über «feste Konsistenz», «weiche Konsistenz» und «brechend». Gene,
mit einer Schürze angetan, rührte in den Kesseln wie ein Wikingerruderer und
mühte sich nach Kräften, seine Zigarettenasche davon fernzuhalten. Er hatte
drei altertümliche Süßwarenthermometer, deren Metallgehäuse wie Beitrittspaddel
einer Studentenverbindung geformt waren und die die Eigenheit besaßen, mehrere
Stunden lang keinerlei Temperaturerhöhung anzuzeigen und dann, alle zusammen
und auf einmal, Temperaturen zu messen, bei denen die Fondantmasse verbrannte
und das Toffee hart wie Epoxidharz wurde. Er und Dorothy waren nie so sehr ein Team, wie wenn sie gegen die Uhr anarbeiteten,
um die Nüsse unterzumischen und die Masse auszugießen. Und dann die brachiale
Arbeit, zu hart gewordenes Toffee zu schneiden: die Messerklinge, die sich
unter dem gewaltigen Druck, den Gene ausübte, bog, das hässliche (weniger
gehörte als im Knochenmark, in den Zahnnerven gespürte) Geräusch einer scharfen
Kante, die sich auf dem Boden einer Metallpfanne abstumpft, die Explosionen im
klebrigen, braunen Bernstein, das väterliche Scheißdreck,
verfluchter Mist-Gebrüll, das nörglerische mütterliche Flehen, doch
nicht so zu fluchen.
Am letzten
Adventwochenende, als achtzig oder hundert Dosen mit Wachspapier ausgeschlagen,
mit Fondant und Toffee gefüllt und mit Mandeldragees verziert waren, fuhren
Gene, Dorothy und Walter los, um sie zu
verteilen. Das dauerte das ganze Wochenende, häufig länger. Walters älterer Bruder Mitch blieb mit Brent, dem, obwohl
später Luftwaffenpilot, als Kind im Auto schnell übel wurde, im Motel. Das
Naschwerk ging erst an Genes viele Freunde in Hibbing und danach, unter viel
Hin und Zurück auf Stichstraßen und in Sackgassen, an weiter entfernte Freunde
und Verwandte im gesamten Gebiet der Iron Range bis
Grand Rapids und noch darüber hinaus. Es war
undenkbar, in einem Haus keinen Kaffee oder kein Plätzchen anzunehmen.
Zwischen den Stationen saß Walter mit einem Buch auf der Rückbank und beobachtete
einen schwachen, fensterförmigen Flecken Sonnenlicht, der sich starr auf dem
Sitz hielt und dann, wenn schließlich eine rechtwinklige Abzweigung erreicht
war, über den Fußraumcanyon glitt und in verdrehter Form auf der Rückseite des
Vordersitzes wieder auftauchte. Draußen zogen die ewig armseligen
Waldparzellen, das ewig zugeschneite Moor, die an Telegraphenmasten genagelten
runden Blechwerbetafeln für
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