Franzen, Jonathan
zu sein, die von sich selbst in der dritten Person sprechen.
Obwohl sie glaubt, dass sie sich entscheidend verändert hat und unendlich viel
besser zurechtkommt als früher und es daher verdient, noch einmal angehört zu
werden, kann sie sich bis heute nicht dazu überwinden, eine Stimme aufzugeben,
die sie gefunden hat, als sie nirgendwo anders mehr Halt hatte, auch wenn das
bedeutet, dass ihr Leser dieses Schriftstück direkt in seinen alten
Macalester-College-Papierkorb wirft.
Die
Autobiographin beginnt mit dem Eingeständnis, dass sechs Jahre ein langes
Schweigen sind. Ganz am Anfang, als sie Washington verließ, hatte Patty das
Gefühl, den Mund zu halten sei das Barmherzigste, was sie sowohl für sich
selbst als auch für Walter tun könnte. Sie wusste, wie aufgebracht er sein
würde, wenn er erfuhr, dass sie für eine Weile zu Richard gezogen war. Sie
wusste, er würde daraus folgern, dass sie seine Gefühle nicht achtete und
gelogen oder sich selbst etwas vorgemacht haben musste, als sie ihm immer
wieder versichert hatte, sie liebe ihn und nicht seinen Freund. Aber eins sei
festgehalten: Bevor sie nach Jersey City fuhr, verbrachte sie sehr wohl eine
Nacht allein in einem Washingtoner Marriott Hotel und zählte dort die
extrastarken Schlaftabletten, die sie mitgenommen hatte, und untersuchte die
kleine Plastiktüte, mit der man als Hotelgast den Eiskübel auskleiden soll.
Natürlich lässt sich leicht sagen: «Gut, aber sie hat sich ja dann doch nicht
umgebracht, oder?», und man kann ihr Selbstinszenierung, Selbstmitleid,
Selbstbetrug und andere ungesunde Selbstdinge unterstellen. Die Autobiographin
bleibt trotzdem dabei, dass Patty in jener Nacht ganz tief am Boden war, so tief
unten wie noch nie, und sich zwingen musste, an ihre Kinder zu denken. Ihr
Schmerzpegel war, wenn auch vielleicht nicht höher als Walters, so doch
wirklich hoch. Und Richard war derjenige, der sie in diese Situation gebracht
hatte. Richard war der Einzige, der sie verstehen würde, der Einzige, zu dem
sie gehen konnte, ohne sich zu Tode zu schämen, der Einzige, der sie, davon war
sie überzeugt, immer noch wollte. Daran, dass sie Walters Leben zerstört hatte,
ließ sich im Moment nichts ändern, warum also, dachte sie, sollte sie nicht
wenigstens versuchen, ihr eigenes zu retten.
Aber um
ehrlich zu sein, ärgerte sie sich auch über Walter. Egal, wie schmerzhaft es
für ihn gewesen sein mochte, gewisse Seiten ihrer Autobiographie zu lesen - sie
fand noch immer, dass er ihr unrecht damit getan hatte, sie aus dem Haus zu
werfen. Ihrer Ansicht nach hatte er überreagiert und sie zu hart bestraft und
sich selbst nicht eingestanden, wie sehr ihm daran lag, sie los zu sein und zu
seiner Freundin überlaufen zu können. Und zu ihrem Ärger kam noch die
Eifersucht hinzu, weil dieses Mädchen Walter wirklich liebte, während Richard
kein Mensch ist, der irgendjemanden wirklich lieben kann (außer, in einem
rührenden Ausmaß, Walter). Obwohl Walter die Dinge ganz sicher anders sah,
fühlte Patty sich im Recht, als sie beschloss, nach Jersey City zu fahren, um
so viel Trost zu finden und Rache zu üben und Selbstbewusstsein zu tanken, wie
es der Sex mit einem ichbezogenen Musiker hergab.
Die
Autobiographin wird über die Einzelheiten von Pattys Monaten in Jersey City schnell hinweggehen und nur so viel sagen,
dass das Ausreizen des alten Reizes nicht ohne seine intensiven, wenn auch
kurzlebigen Freuden war, und hinzufügen, dass sie wünschte, sie hätte ihn schon
ausgereizt, als sie einundzwanzig war und Richard nach New York zog, und wäre
dann zum Ende des Sommers nach Minnesota zurückgekehrt, um herauszufinden, ob
Walter sie immer noch wollte. Denn auch das sei festgehalten: Sie hatte in
Jersey City kein einziges Mal Sex, ohne daran zu denken, wie sie und ihr Mann
es, auf dem Fußboden ihres Zimmers in Georgetown, zum letzten Mal getan hatten.
Obwohl Patty und Richard in Walters Vorstellung bestimmt Monster waren, die
sich einen Dreck um seine Gefühle scherten, konnten sie seiner Gegenwart de
facto nie entfliehen. Zum Beispiel war es für sie überhaupt keine Frage, dass
Richard sein Versprechen, Walter bei dessen Anti-Bevölkerungs-Initiative zu
helfen, auf jeden Fall einlösen musste. Und zwar nicht aus schlechtem Gewissen,
sondern aus Liebe und Bewunderung. Was Walter, wenn er sich klargemacht hätte,
wie viel es Richard abverlangte, berühmteren Musikern vorheucheln zu müssen,
dass ihm die Überbevölkerung der Welt Sorgen
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