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Franzen, Jonathan

Franzen, Jonathan

Titel: Franzen, Jonathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Freihheit
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gefährlichem Tempo nahm oder eben
nicht. Ob ein Kohlelaster um eine dieser Kurven schoss und damit tat, was ein
Kohlelaster jede Woche irgendwo in West Virginia tat. Oder ob jemand in einem
hochgebockten Geländewagen, vielleicht jemand, dessen Scheune mit den Worten F rei R aum oder K rebsgeschwür auf dem P laneten beschmiert
worden war, eine dunkelhäutige junge Frau in einem gemieteten koreanischen
Kleinwagen sah und auf ihre Spur schwenkte oder hinter ihr zu dicht auffuhr
oder sie beim Überholen schnitt oder sie von der bankettlosen Straße gar
vorsätzlich abdrängte.
    Was auch
genau geschehen sein mochte, gegen 7 Uhr 45 stürzte ihr Wagen acht Kilometer
südlich der Farm eine lange und sehr steile Böschung hinab und zerschellte an
einem Hickorybaum. Der Polizeibericht enthielt nicht einmal den schwachen
Trost, dass sie sofort tot war. Doch das Trauma war schwer - ein Becken
gebrochen, eine Oberschenkelarterie durchtrennt -, und in jedem Fall war sie
gestorben, bevor Walter um 7 Uhr 30 in Minnesota den Hausschlüssel wieder an
seinen Nagel unter der Bank hängte und nach Aitkin
County fuhr, um nach seinem Bruder zu suchen.
    Aus langer
Erfahrung mit seinem Vater wusste er, dass man sich mit Alkoholikern am besten
morgens unterhielt. Was Brent über Mitchs neueste Ex, Stacy, hatte sagen können, war lediglich, dass sie in einer Bank in Aitkin arbeitete, dem Sitz des County, also lief
er in Aitken von einer Bank zur nächsten und fand Stacy in der dritten. Sie war auf die Weise eines drallen Bauernmädchens
hübsch, sah aus wie fünfunddreißig und redete wie ein Teenager. Obwohl sie
Walter noch nie begegnet war, schien sie geneigt, ihn dafür, dass Mitch ihre
Kinder verlassen hatte, maßgeblich verantwortlich zu machen. «Du könntest es
auf der Farm von seinem Freund Bo versuchen», sagte sie muffig und mit einem
Achselzucken. «Das Letzte, was ich gehört hab, war, dass Bo ihn in seiner
Garagenwohnung hat wohnen lassen, aber das ist schon ein Vierteljahr her.»
    Das
sumpfige, gletschergeschliffene, erzlose Aitkin County war das
ärmste County von Minnesota und daher voller Vögel,
doch Walter hielt nicht an, um sie zu beobachten, als er auf der County
Road 5 schnurgeradeaus fuhr, bis er Bos Farm gefunden hatte.
Auf einem großen Feld standen die gewucherten Reste von abgeerntetem Raps, und
auf einem kleineren Maisfeld wuchs weitaus mehr Unkraut, als es hätte sein
müssen. Bo kniete auf der Einfahrt unweit des Hauses und reparierte den Ständer
eines Mädchenfahrrads, das mit rosa Plastikbändchen geschmückt war, während
eine Schar kleiner Kinder ständig durch die offene Haustür hinein und wieder
heraus lief. Bos Wangen waren aufgeblüht vom Gin, aber er war jung und hatte
Muskeln wie ein Ringer. «Sie sind also der Bruder aus der Großstadt», sagte er
und musterte verblüfft Walters Transporter.
    «Genau»,
sagte Walter. «Ich habe gehört, Mitch wohnt bei Ihnen?»
    «Jaa, der
kommt und geht. Wahrscheinlich finden Sie ihn jetzt oben am Petersee, auf dem
County-Campingplatz. Wollen Sie was Bestimmtes von ihm?»
    «Nein, ich
bin bloß gerade hier in der Gegend.»
    «Ja, dem
geht's ziemlich dreckig, seit Stacy ihn
rausgeschmissen hat. Ich helf ihm halt ein bisschen.»
    «Sie hat
ihn rausgeschmissen?»
    «Ach, na
ja. Jede Geschichte hat zwei Seiten, stimmt's?»
    Er fuhr
fast eine Stunde bis zum Petersee, wieder Richtung Grand Rapids. Auf dem Campingplatz angekommen, der ein wenig wie ein Autofriedhof
aussah und in der Mittagssonne besonders reizlos war, sah Walter einen alten
Fettwanst vor einem schlammbespritzten roten Zelt sitzen und Fischschuppen auf
ein Zeitungsblatt kratzen. Erst als er schon an ihm vorbei war, erkannte er in
ihm, an der Ähnlichkeit mit seinem Vater, Mitch. Er parkte den Transporter an
einer Pappel, damit er ein wenig Schatten abbekam, und fragte sich, was er hier
überhaupt tat. Er war nicht bereit, Mitch das Haus am Namenlosen See anzubieten;
er dachte, er und Lalitha würden vielleicht selbst einen Sommer oder zwei darin
wohnen und sich dort über ihre Zukunft Gedanken machen. Aber er wollte mehr wie
Lalitha sein, furchtloser und menschenfreundlicher, und obwohl er sich vor
Augen führte, dass es vielleicht barmherziger wäre, Mitch einfach in Ruhe zu
lassen, holte er tief Luft und ging zu dem roten Zelt zurück.
    «Mitch»,
sagte er.
    Mitch
schuppte einen zwanzig Zentimeter großen Sonnenbarsch und schaute nicht auf.
«Ja.»
    «Ich bin's, Walter. Dein Bruder.»
    Daraufhin
schaute

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