Franzen, Jonathan
zusammenkommen können. Aber der Gedanke
lässt sie nicht los. Tag für Tag, Jahr für immergleiches Jahr meldet sie sich
in ihr, diese Sehnsucht nach seinem Gesicht und seiner Stimme und seiner Wut
und seiner Freundlichkeit, diese Sehnsucht nach ihrem Gefährten.
Und das
ist eigentlich alles, was die Autobiographin ihrem Leser sagen will, außer dass
sie, zum Abschluss, noch erwähnen möchte, was sie zum Schreiben dieser Seiten
veranlasst hat. Ein paar Wochen zuvor, als sie aus einer Buchhandlung kam, in
der ein ernster junger Autor aus seinem Roman gelesen hatte, dessen stolze Verlegerin
Jessica ist, sah Patty auf der Spring Street in Manhattan einen
großgewachsenen Mann mittleren Alters auf sich zukommen und erkannte in ihm
Richard Katz. Sein Haar ist jetzt kurz und grau, und er trägt eine Brille, die
ihm etwas seltsam Distinguiertes verleiht,
obwohl er sich immer noch kleidet wie ein Zwanzigjähriger in den späten
siebziger Jahren. Während er da im Süden Manhattans, wo man nicht so unsichtbar
sein kann wie im tiefsten Brooklyn, näher kam, wurde Patty bewusst, wie alt sie
selbst inzwischen aussehen musste, ganz die unmaßgebliche Mutter von irgendwem.
Wenn es möglich gewesen wäre, sich zu verstecken, hätte sie es getan, damit
ihnen Peinlichkeiten erspart blieben, Richard die Peinlichkeit, ihr zu
begegnen, und ihr selbst die Peinlichkeit, als sein ausrangiertes Sexobjekt
dazustehen. Aber sie konnte sich nicht verstecken, und mit einem vertrauten
Bemühen um Anstand, nach einigen verlegenen Hallos, fragte Richard sie, ob er
sie zu einem Glas Wein einladen dürfe.
In der
Bar, in der sie landeten, hörte Richard sich mit der halbierten Aufmerksamkeit
eines vielbeschäftigten und erfolgreichen Mannes an, was Patty von sich zu
erzählen hatte. Er selber schien endlich seinen Frieden mit dem Erfolg geschlossen
zu haben - unbefangen und ohne Rechtfertigungen erwähnte er, er habe so eine
avantgardistische Orchestersache für die Brooklyn Academy
of Music gemacht, und seine derzeitige Freundin, die offenbar eine
bedeutende Dokumentarfilmerin ist, habe ihn mit verschiedenen jungen
Regisseuren jener Art von Programmkinofilmen zusammengebracht, die Walter
immer so gut gefallen hätten, und gerade sitze er an ein paar
Vertonungsprojekten. Patty erlaubte sich, einen kleinen Stich zu verspüren,
weil er so vergleichsweise zufrieden wirkte, und einen weiteren kleinen Stich,
als sie sich seine hochenergetische Freundin vorstellte, bevor sie das
Gespräch, wie immer, auf Walter lenkte.
«Du hast
also überhaupt keinen Kontakt zu ihm», sagte Richard.
«Nein»,
sagte sie. «Es ist wie in einem Märchen. Seit dem Tag, als ich aus Washington
weggegangen bin, haben wir nicht mehr miteinander gesprochen. Sechs Jahre, und
kein einziges Wort. Ich höre nur über die Kinder von ihm.»
«Vielleicht
solltest du ihn mal anrufen.»
«Das kann
ich nicht, Richard. Ich habe meine Chance vor sechs Jahren vertan, und ich
glaube, jetzt möchte er einfach nur in Ruhe gelassen werden. Er wohnt im Haus
am See und arbeitet da oben für die Nature Conservancy. Wenn er
Kontakt zu mir aufnehmen wollte, könnte er mich jederzeit anrufen.»
«Vielleicht
denkt er in Bezug auf dich dasselbe.»
Sie
schüttelte den Kopf. «Ich glaube, jeder würde zugeben, dass er mehr gelitten
hat als ich. Keiner kann so grausam sein zu meinen, es sei an ihm, mich
anzurufen. Außerdem habe ich Jessie oft genug
gesagt, dass ich ihn gern wiedersehen würde. Sie hat ihm diese Information
unter Garantie übermittelt - schließlich hätte sie so gern wieder alles im Lot.
Also ist er doch offenbar immer noch verletzt und wütend und hasst uns beide.
Und wer könnte es ihm verdenken?»
«Ich,
jedenfalls ein bisschen», sagte Richard. «Weißt du noch, wie er damals im
College diese Schweigenummer mit mir durchgezogen hat? Das war doch
bescheuert. Es schadet seiner Seele. Das ist die Seite an ihm, die ich nie
ausstehen konnte.»
«Na, dann
solltest du ihn vielleicht mal anrufen.»
«Nein.» Er
lachte. «Ich habe endlich die Zeit gefunden, ihm ein kleines Geschenk zu machen
- wenn du die Augen offen hältst, wirst du es in ein paar Monaten sehen. Ein
kleiner freundschaftlicher Gruß über die Zeitzonen. Aber für Entschuldigungen
hat mir schon immer der Mumm gefehlt. Wohingegen du.»
«Wohingegen
ich?»
Er winkte
der Kellnerin bereits wegen der Rechnung. «Du weißt doch, wie man Geschichten
erzählt», sagte er. «Warum erzählst du ihm nicht eine
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