Franzen, Jonathan
Beweis zu stellen. Richard zufolge war das Mädchen es
nicht wert, dass man sich um sie stritt, war bloß eine Mücke, die erschlagen
werden musste. Aber Walter sah das ganz anders. Er wurde so wütend auf Richard,
dass er wochenlang nicht mit ihm sprach. Damals teilten sie sich eine Zweizimmereinheit,
wie sie höheren Semestern vorbehalten war, und jeden Abend, wenn Richard durch
Walters Zimmer hindurchging, um in sein eigenes, abgeschiedeneres zu gelangen,
blieb er stehen und fing ein einseitiges Gespräch an, das ein objektiver
Beobachter wahrscheinlich amüsant gefunden hätte.
Richard:
«Redest also immer noch nicht mit mir. Bemerkenswert. Wie lange soll das noch
so gehen?» Walter: Schweigen.
Richard:
«Wenn du nicht willst, dass ich mich setze und dir beim Lesen zuschaue,
brauchst du nur einen Ton zu sagen.» Walter: Schweigen.
Richard:
«Interessantes Buch? Scheinst es ja nicht gerade zu verschlingen.»
Walter:
Schweigen.
Richard:
«Weißt du, wie du dich aufführst? Wie ein Mädchen. So benehmen sich Mädchen.
Das ist doch bescheuert, Walter. Es kotzt mich allmählich an.»
Walter:
Schweigen.
Richard:
«Wenn du willst, dass ich mich entschuldige, kannst du lange warten. Lass dir
das gleich gesagt sein. Es tut mir leid, dass du verletzt bist, aber mein
Gewissen ist rein.»
Walter:
Schweigen.
Richard:
«Dir ist schon klar, dass du der einzige Grund bist, warum ich überhaupt noch
hier bin, oder? Wenn du mich vor vier Jahren gefragt hättest, wie
wahrscheinlich es ist, dass ich meinen Abschluss mache, hätte ich gesagt, kaum
bis gar nicht.»
Walter:
Schweigen.
Richard:
«Im Ernst, ich bin ein bisschen enttäuscht.»
Walter:
Schweigen.
Richard:
«Na gut. Scheiß drauf. Sei ein Mädchen. Mir doch egal.»
Walter:
Schweigen.
Richard:
«Pass auf. Wenn ich ein Drogenproblem hätte und du meine Drogen wegwerfen
würdest, würde mich das auch ankotzen, aber ich würde verstehen, dass du mir
einen Gefallen tun wolltest.»
Walter:
Schweigen.
Richard:
«Zugegeben, die Analogie ist nicht perfekt, weil ich die Drogen quasi selber
genommen habe, anstatt sie einfach wegzuwerfen. Aber wenn du nun schwer
suchtanfällig wärst, wohingegen ich nur aus Zeitvertreib etwas genommen habe,
weil ich der Meinung bin, dass es eine Schande ist, gute Drogen zu verschwenden
...»
Walter:
Schweigen.
Richard:
«Schon gut, dämliche Analogie.»
Walter:
Schweigen.
Richard:
«He, das sollte lustig sein. Kannst ruhig darüber lachen.»
Walter:
Schweigen.
So
jedenfalls stellt die Autobiographin es sich, auf der Grundlage späterer
Aussagen der beiden Beteiligten, vor. Walter erhielt sein Schweigen bis zum
Beginn der Osterferien aufrecht, in denen er allein nach Hause fuhr und Dorothy ihm den Grund entlocken konnte, warum er Richard nicht mitgebracht
hatte. «Du musst die Menschen so nehmen, wie sie sind», sagte sie zu ihm.
«Richard ist ein guter Freund, und du solltest ihm gegenüber loyal sein.» (Loyalität
wurde bei Dorothy ganz
großgeschrieben - das Wort verlieh ihrem nicht besonders angenehmen Leben Sinn
-, und Patty hörte Walter ihre Ermahnung häufig zitieren, offenbar hatte sie
fast biblische Gültigkeit für ihn.) Er wandte ein, Richard sei selbst extrem illoyal gewesen,
immerhin habe er ihm ein Mädchen ausgespannt, das ihm etwas bedeutet habe, aber Dorothy, vielleicht ihrerseits in den
Katz'schen Bann geraten, sagte, sie glaube nicht, dass Richard das eigens getan
habe, um ihn zu verletzen. «Es ist gut, im Leben Freunde zu haben», sagte sie.
«Wenn du Freunde haben möchtest, solltest du nicht vergessen, dass niemand
vollkommen ist.»
Was das
Mädchenproblem noch um einiges verzwickter machte, war die Tatsache, dass
diejenigen, die Richard anzog, fast ausnahmslos große Musikfans (Anm.: Auf der
Busfahrt von Chicago nach Hibbing kam Patty der Gedanke, dass Richard sie
womöglich deshalb abgewiesen hatte, weil sie seine Musik nicht mochte und er
sich darüber ärgerte. Nicht dass sie irgendetwas dagegen hätte tun können.) waren und
Walter, als Richards ältester und größter Fan, in erbitterter Konkurrenz zu
ihnen stand. Mädchen, die zu dem besten Freund ihres Liebhabers sonst
vielleicht
freundlich
gewesen wären oder ihn zumindest toleriert hätten, meinten, Walter die kalte
Schulter zeigen zu müssen, weil leidenschaftliche Fans nun einmal das
Bedürfnis haben, sich mit dem Objekt ihrer Leidenschaft auf einzigartige Weise
verbunden zu fühlen; eifersüchtig wachen sie über jene Verbindungspunkte,
Weitere Kostenlose Bücher