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Franzen, Jonathan

Franzen, Jonathan

Titel: Franzen, Jonathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Freihheit
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ähnelte und
für die ihre eigenen, reichen Erfahrungen mit dem Fehlermachen eine Quelle des
Trostes gewesen wären, war sie doch in erster Linie stolz, eine Tochter zu
haben, die so genau wusste, wo es langging. Sie freute sich daran, Jessica mit
Richards bewundernden Augen zu sehen, und es gab ihr ein Gefühl der
Sicherheit, wenn er und Walter ins Auto stiegen, um etwas zusammen zu
unternehmen: der großartige Mann, den sie geheiratet, und der sexuell
anziehende Mann, den sie nicht geheiratet hatte. Richards Zuneigung zu Walter
bewirkte, dass sie selbst Walter positiver sah; sein Charisma hatte es an sich,
alles annehmbar werden zu lassen, womit es in Berührung kam.
    Ein
deutlicher Schatten war Walters Missbilligung von Richards Verhältnis mit Molly Tremain. Sie hatte zwar eine sehr schöne Stimme, war aber ein
schwermütiger, womöglich manisch-depressiver Mensch und verbrachte ungeheuer
viel Zeit allein in ihrer Wohnung auf der Lower
East Side, wo sie nächtelang freiberuflich Manuskripte lektorierte
und die Tage verschlief. Molly stand stets
zur Verfügung, wenn Richard bei ihr vorbeikommen wollte, und Richard
behauptete, sie habe nichts dagegen einzuwenden, seine Teilzeitgeliebte zu
sein, aber Walter wurde den Verdacht nicht los, dass ihre Beziehung auf
Missverständnissen gründete. Über die Jahre entlockte Patty Walter diverse
verstörende Sätze, die Richard unter vier Augen zu ihm gesagt hatte, darunter:
«Manchmal denke ich, dass es meine Bestimmung im Leben ist, meinen Penis in die
Scheide möglichst vieler Frauen zu stecken», und: «Die Vorstellung, für den
Rest meines Lebens mit ein und demselben Menschen zu schlafen, ist für mich der
Tod.» Walters Befürchtung, Molly glaube im
Stillen, dass Richard diesen Empfindungen irgendwann entwachsen werde, erwies
sich als richtig. Molly war zwei
Jahre älter als Richard, und als sie auf einmal zu dem Schluss kam, sie wolle,
bevor es zu spät sei, ein Kind mit ihm, sah Richard sich gezwungen, ihr
begreiflich zu machen, warum es dazu nie kommen werde. Worauf es zwischen ihnen
schnell derart scheußlich wurde, dass er gleich ganz mit ihr Schluss machte und
sie im Gegenzug die Band verließ.
    Es traf
sich, dass Mollys Mutter
eine altgediente Redakteurin im Kulturressort der New York
Times war, was vielleicht erklärt, warum die Traumatics, trotz
Plattenverkäufen im unteren vierstelligen und Konzertbesucherzahlen im oberen
zweistelligen Bereich, mehrere große, positive Besprechungen in dieser Zeitung
bekommen hatten («Konsequent originell und ewig unbekannt», «Vom Desinteresse
ungebrochen, gehen die Traumatics ihren Weg») und, nach In Case
You Hadn't Noticed, Kurzkritiken aller ihrer Alben. Ob
es nun purer Zufall war oder nicht - Insanely Happy, ihr erstes
Album ohne Molly und, wie
sich zeigen sollte, ihr letztes überhaupt, wurde nicht nur von der Times, sondern
sogar von den wöchentlichen Stadtteilmagazinen, die gratis verteilt wurden und
lange Zeit ein Bollwerk der Traumatics-Unterstützung gewesen waren, ignoriert.
Nach Richards Theorie, die er Walter und Patty bei einem frühen Abendessen
unterbreitete, als die Band sich noch einmal durch die Twin Cities schleppte, lag das daran, dass er die Aufmerksamkeit der Presse
bislang, ohne sich dessen bewusst gewesen zu sein, auf Kredit gekauft hatte und
die Presse nun zu dem Ergebnis gelangt war, niemand werde je ein Traumatics-Kenner
sein müssen, um seine kulturelle Bildung oder sein Ansehen in der Szene unter
Beweis zu stellen, weshalb es für weitere Kredite keinen Grund mehr gebe.
    Patty, mit
Ohrstöpseln ausgestattet, begleitete Walter an jenem Abend auf Richards Konzert.
The Sick Chelseas, vier gleichklingende Mädchen aus der Gegend, kaum älter als
Jessica, traten als Vorgruppe auf, und Patty ertappte sich bei der Überlegung,
welche von ihnen Richard wohl hinter der Bühne angebaggert hatte. Sie war nicht
eifersüchtig auf die Mädchen, sie war traurig Richards wegen. Sowohl Walter als
auch ihr dämmerte allmählich, dass Richard, auch wenn er ein guter Musiker und Songwriter war, nicht das schönste Leben
führte: dass all seine Selbstkritik und all seine Beteuerungen, wie sehr er sie
beide bewunderte und beneidete, tatsächlich ernst gemeint gewesen waren. Nach
dem Auftritt der Sick Chelseas verdünnisierten sich ihre spätpubertären Freunde
und ließen in dem Club nicht mehr als dreißig unverwüstliche Traumatics-Fans
zurück - weiß, männlich, ungepflegt und noch etwas weniger jung als

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