Franziskus, der neue Papst (German Edition)
Lateinamerikanern nicht das Gefühl zu geben, ihre Sorgen, ihre bittere Not auch theologisch ernst zu nehmen. Franziskus und sein Glaubenspräfekt Gerhard Ludwig Müller werden das innere Verhältnis zur Befreiungstheologie klären müssen, die Konstellation ist interessant: Gerhard Ludwig Müller wurde vor seiner Ernennung zum »Hüter der Lehre« von konservativen italienischen Kreisen unter anderem deshalb abgelehnt, weil er angeblich der Befreiungstheologie zu nahe stehe. In der Tat ist Müller ein exzellenter Kenner Lateinamerikas und der religiösen und sozialen Strömungen auf dem Subkontinent. Er studierte beim berühmten Gustavo Gutiérrez und hat dabei neue Erfahrungen gemacht, »mit Menschen, für die diese Theologie entwickelt worden ist. Für meine eigene theologische Entwicklung ist diese Umkehrung der Reihenfolge von der Theorie zur Praxis hin zu dem Dreischritt › Sehen-Urteilen-Handeln ‹ entscheidend geworden.« Nach seiner Ernennung zum Chef der Glaubenskongregation erklärte er rasch, man dürfe die Befreiungstheologie nicht grund sätzlich verdammen. Zwar sei eine »Vermischung von marxistischen Selbsterlösungslehren und dem von Gott geschenkten Heil grundsätzlich abzulehnen«. Dennoch gebe es eine »richtige Theologie der Befreiung«, die auf die Situation der Armen und Unterdrückten reagiert. Diese Theologie zu formulieren, in den römischen Palazzi en vogue zu machen, dafür wird – so es denn sein Wunsch und Wille ist – Franziskus das Signal geben müssen. Ob direkt oder indirekt durch die Glaubenskongregation, ist erst einmal zweitrangig.
Der Umgang mit der sich ändernden Struktur und Statik der Kirche wird zu den Hauptthemen des neuen Pontifikats gehören. Noch als Kardinal hatte Bergoglio gesagt: »Die ungleiche Verteilung der Güter schafft eine Situation sozialer Sünde, die zum Himmel schreit«, und so vielen Brüdern und Schwestern die Möglichkeit eines erfüllteren Lebens vorenthält.«
Dabei sollten sich die Gläubigen bewusst sein, dass das »semper reformanda« in diesem Fall ein sehr langsames »reformanda« ist. Der Eurozentrismus in der Kirche kann überwunden werden, doch das benötigt Geduld. Auf die Stärke der europäischen oder amerikanischen Ortskirchen wird niemand verzichten wollen noch können. Sie zu integrieren in einem Prozess, der die Kirche auf die neue Situation einstellt, ohne das Erbe zu verlieren, ist die wahre Kunst. Die Begeisterung für die junge Kirche in der »Dritten Welt«, als hoffnungsvoller Gegensatz zur alten in Europa oder Nordamerika, darf nicht blind machen für eingangs beschriebene strukturelle und ideologische Gefahren des Katholizismus beispielsweise in Afrika. Die Vermittlung zwischen Neu und Alt, Liberal und Reaktionär wird Franziskus und seine Mitarbeiter fordern. Darauf angemessen zu reagieren, ist nicht leicht. Zu verhindern, dass die tektonische Verschiebung in der Kirche tiefe Gräben reißt, erfordert Kraft und Kreativität und die Bereitschaft, neue Wege zu gehen: Beispielsweise gab es, inoffiziell freilich, Überlegungen, die Priesterausbildung weiter zu internationalisieren. Ein Pflichtjahr als Austauschjahr – und das nicht in Rom – könnte die Möglichkeit eröffnen, Impulse aus den jeweiligen anderen Kulturen zu importieren, ohne dabei einen zu radikalen Schnitt zu machen. Solche Maßnahmen wirken unscheinbar und sind dennoch effektiv. Sie können eine Möglichkeit sein, indirekt vom Zentrum aus zu wirken, indem man die Peripherie wirken lässt. Ohne den Vatikan mit Gott gleichsetzen zu wollen, sei auf ein berühmtes Zitat Teilhard de Chardins, auch Jesuit wie der neue Pontifex, zur Schöpfungslehre verwiesen: »Gott macht, dass sich die Dinge selber machen.« Bei allen Schwierigkeiten und eingedenk dessen, dass Fehlentwicklungen nie ausgeschlossen sind: Rom und der Papst können Weichen dafür stellen und vor allem Freiheit dafür lassen, dass die Ortskirchen sich entfalten, ohne den Bezug zum Heiligen Stuhl und dem katholischen Lehramt zu verlieren.
DAS PROJEKT DER NEUEVANGELISIERUNG
»Evangelisieren ist in der Tat die Gnade und eigentliche Berufung der Kirche, ihre tiefste Identität.«
»Überall und immer hat die Kirche die Pflicht, das Evangelium Jesu Christi zu verkünden.«
Zwei Sätze, zwei Päpste und eine Aussage: Identität und Aufgabe der Kirche ist es, die Botschaft Jesu Christi zu verkünden. Das erste Zitat stammt aus dem Apostolischen Schreiben »Evangelii nuntiandi« von Paul VI., das zweite
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