Franzosenliebchen
anderen Seite die
Böschung hinunter und drückte sich durch das Unterholz,
Goldstein folgte ihm auf dem Fuße. Zweige peitschten sein
Gesicht. Hinter ihm erklangen gebellte Befehle. Zwei, drei Minuten
später hatten sie das Gestrüpp durchquert. Vor ihnen
befand sich eine offene Fläche. Ein Feld, dachte Goldstein und
sah, wie Schneider mit einem riesigen Satz erst über einen
Graben sprang und dann über einen Zaun setzte. Goldstein tat
es ihm nach. Nebelschwaden hingen tief über der Wiese.
Schnelle Schritte waren in ihren Rücken zu
hören.
Goldsteins Lunge
rasselte. Wieder ein Zaun, dann noch einer. Er blieb mit dem linken
Unterschenkel im Stacheldraht hängen. Ein heftiger Schmerz,
ein kurzes Stolpern, dann war er wieder frei. Schüsse fielen
hinter ihm. Er ließ sich zu Boden fallen, raffte sich aber
sofort wieder hoch und lief weiter. Seine Brust drohte zu
zerspringen. Blitze zuckten vor seinen Augen. Dieser Nebel. Oder
war das Gas? Realität mischte sich mit Erinnerung. Er
hörte neben sich Granaten explodieren und Artilleriegeschosse
heulen. Diesen Drahtverhau musste er noch nehmen, dann war er durch
das mörderische Sperrfeuer der Franzosen hindurch. Nur noch
diesen Hang hinauf und dann in Deckung werfen. Er stolperte,
stürzte, rannte um sein Leben, nur von seinem
Überlebensinstinkt getrieben. Er musste das Sperrfeuer
überwinden, musste …
Adolf Schneider blieb
schwer atmend stehen. »Wir haben sie abgehängt. Wir
haben es tatsächlich geschafft!«
Erst jetzt realisierte
Goldstein wieder, wo er war. Vor ihm stand sein Zellengenosse und hatte
sein breitestes Grinsen aufgesetzt. Sie befanden sich in der
Deckung eines flachen Gebäudes. Im Hintergrund erhoben sich in
den Nachthimmel hohe Kräne, die stählernen Giraffen
glichen. Dunkle Kohleberge türmten sich rechts und links
auf.
»Das
Kohleumschlaglager im Hafen Wanne-Eickel«, erklärte
Schneider. »Direkt am Dannekamp. Die wollten uns doch
tatsächlich über Wanne nach Recklinghausen
bringen.«
Goldstein kannte die
Örtlichkeiten zwar nicht. Aber Schneiders Erstaunen über
ihre Route und die offensichtliche Sorglosigkeit der Franzosen
während des unvermuteten Stopps ließen Zweifel in ihm
aufkommen. Ihre Flucht kam ihm mit einem Mal zu einfach, zu
reibungslos vor. War vielleicht alles inszeniert gewesen? Hatten
ihre Bewacher die Flucht gewollt? Aber warum? War Schneider
vielleicht doch ein Spitzel? Goldstein verdrängte diese
Gedanken. Letztlich war es egal. Er war noch am Leben und hatte
seine Freiheit wieder. Das war im Moment das Einzige, was
zählte.
»Komm, hilf
mir.« Schneider hatte die vertrauliche Form der Anrede
beibehalten und Goldstein beschloss, es ihm gleichzutun.
»Wobei?«
»Wir brauchen
einen Unterschlupf für die Nacht.« Schneider zeigte auf
ein gutes Dutzend Ölfässer, die nur wenige Meter von
ihnen entfernt lagen.
»Warum versuchen
wir nicht, uns nach Sodingen durchzuschlagen?«, erkundigte
sich Goldstein. Der Gedanke, die Nacht im Freien zu verbringen,
gefiel ihm nicht besonders.
»Das ist viel zu
gefährlich. Es herrscht Ausgangssperre. Um diese Zeit sind nur
Franzosen unterwegs. Außerdem werden sie nach uns suchen.
Nein, wir müssen hierbleiben und hoffen, dass wir am Morgen
unerkannt weiterkommen. Da sind viele auf dem Weg zur Arbeit, da
fallen wir nicht so auf.«
Das leuchtete
Goldstein ein.
Die beiden Männer
schleppten die leeren Fässer zur Wand des Schuppens. Schneider
stellte sie so auf, dass sie als eine Art Mauer eine rechteckige
Fläche umschlossen, deren eine Längsseite die Wand des
Schuppens bildete. Zuletzt legte er einige Bretter auf die
Fassmauer und warf ein paar Lumpen auf den feuchten
Boden.
»Fertig«,
sagte er dann befriedigt. »Von außen sieht es so aus,
als ob die Fässer vor Regen geschützt werden
sollen.« Er schob eines der Fässer zur Seite und kroch
durch das Loch. »Hereinspaziert!«
Goldstein zwängte
sich ebenfalls durch die Öffnung und zog das Ölfass
wieder an seinen Platz. Wenig später fielen die beiden
Männer in einen unruhigen Schlaf.
53
Dienstag, 13.
März 1923
Am nächsten
Morgen war Schneider verschwunden. Goldstein hatte nicht bemerkt,
dass er den Unterschlupf verlassen hatte. Ein Anflug von Panik
erfasste den Polizisten, als er realisierte, dass er nicht nur
allein war, sondern auch nicht wusste, wo er sich befand. Was
sollte er jetzt unternehmen? Warum hatte Schneider ihn allein
gelassen? Wollte er ihn womöglich den Franzosen
ausliefern?
Goldstein
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