Franzosenliebchen
Februar
1923
Martha Schultenhoff,
Wiedemanns Schwester, war eine Frau von Anfang dreißig, deren
Ehemann den Heldentod in der Schlacht bei den Masurischen Seen im
September 1914 zwar nicht gesucht, aber dennoch
gefunden hatte. Sie lebte von einer geringen Hinterbliebenenrente,
arbeitete stundenweise als Schneiderin und Wäscherin für
die nahe gelegene Zeche und vermietete die Dachkammer ihres kleinen
Hauses in der Teutoburgiastraße. Obwohl die Zechenverwaltung
schon mehrmals gedroht hatte, ihr die Wohnberechtigung zu
entziehen, hatte sie es mit Geschick und Umsicht immer wieder
verstanden, eine Kündigung abzuwenden.
Kaum hatte Peter
Goldstein die Koffer in seinem neuen Quartier abgestellt und sich
probeweise auf der harten Liege aus Holz mit der Strohmatratze
ausgestreckt, klopfte es an der Tür. Martha Schultenhoff lud
ihren neuen Untermieter auf einen Begrüßungsschluck ein.
Goldstein dankte, erbat sich aber noch ein paar Minuten Zeit, um
sich etwas frisch zu machen.
Er goss aus einer
großen Kanne Wasser in eine Steingutschale und wusch sich
sorgfältig. Ob es Wiedemann gelingen würde, die Sache mit
seiner Bezahlung zu klären?
Wenig später
saß Goldstein Martha Schultenhoff bei einem selbst gebrannten
Kirschschnaps in der Wohnküche gegenüber.
Er versank fast in dem
altersschwachen Sofa mit der ausgeleierten Polsterfederung. Die
Tischkante befand sich in Höhe seiner Brust. Über dem
Tisch baumelte eine Leuchte und an der Wand links von Goldstein
blubberte ein großer Kohleofen, behagliche Wärme in dem
Raum verbreitend. An dem blank polierten Rundgriff hingen Pfannen
und Töpfe. Neben dem Wasserbecken befand sich der
Küchenschrank und auf ihm einige vergilbte Fotos. Eines trug
einen Trauerflor und zeigte einen Soldaten, vermutlich handelte es
sich um den gefallenen Ehemann seiner Gastgeberin. In einer anderen
Ecke des Raumes wartete eine mechanische Nähmaschine auf
Arbeit. In zwei großen Weidenkörben stapelten sich
Kleidungs- und Wäschestücke.
»Ich bin nicht
dazu gekommen aufzuräumen«, entschuldigte sich Martha
Schultenhoff, die Goldsteins neugierigen Blicken gefolgt war. Sie
saß auf einem der vier wackeligen Holzstühle.
»Erzählen Sie doch ein wenig über sich. Man hat ja
schließlich nicht oft Gelegenheit, mit anderen Menschen so
gemütlich beieinanderzusitzen.«
Goldstein zögerte
keine Sekunde und präsentierte ihr die Legende vom
Handelsvertreter, der auf Kundensuche sei. Er war erstaunt, wie
flüssig ihm die Lügen über die Lippen gingen.
»Und so habe ich …« Goldstein erschrak. Ihm fiel
Wiedemanns Vornamen nicht mehr ein. Um Zeit zu gewinnen, griff er
zum Schnapsglas.
Glücklicherweise
kam ihm Martha Schultenhoff zu Hilfe. »Waren Sie
tatsächlich mit Ewald in einer Klasse? Ich kann mich nicht
erinnern, dass er früher von Ihnen gesprochen
hat.«
Goldsteins Gedanken
rasten. Bruder Ewald war kein gutes Thema. Er musste der
Unterhaltung eine andere Wendung geben, denn sonst würde
auffallen, dass er nicht die geringste Ahnung davon hatte, wo und
wie Ewald Wiedemann seine Schulzeit verbracht hatte. Er entschloss
sich, auf die im Stillen Eck eingeübten Verhaltensweisen
zurückzugreifen, und setzte ein charmantes Lächeln auf:
»Nein, nur auf derselben Schule. Wie geht es denn seiner
Familie?«
Das letzte Wort war
noch nicht verklungen, da wünschte Goldstein, er hätte
diese Frage nicht gestellt. Wie dumm er war!
Seine Gastgeberin
schaute ihn mit erstaunten Augen an. »Ich bin seine Familie.
Unsere Eltern sind schon Vorjahren verstorben.«
»Oh, das tut mir
leid. Ich dachte, er habe erwähnt, dass er verheiratet sei.
Aber da muss ich mich wohl verhört
haben.«
»Bestimmt. Er
ist noch zu haben. Ihm ist die Richtige noch nicht über den
Weg gelaufen.«
»Könnte ich
vielleicht noch …« Goldstein zeigte auf die
Flasche.
»Selbstverständlich.
Gerne. Schmeckt er Ihnen?« Großzügig schenkte
Martha nach.
»Danke. Sehr
gut. Ist das Ihr verstorbener Mann dort auf der Fotografie?«,
versuchte er den Themenwechsel.
»Ja. Das ist
mein Hennes.« Sie hob das Pinnchen. »Warum musste er
mich so früh allein lassen?«, fragte sie
seufzend.
Goldstein heuchelte
Mitleid. »Ewald erzählte mir, Ihr Mann sei bei den
Masurischen Seen gefallen?«
Martha Schultenhoff
nickte bloß.
»Das ist sicher
nicht einfach für Sie gewesen, allein in dieser schweren
Zeit.«
Tränen stiegen in
ihre Augen. »Entschuldigung«, sagte sie und drehte sich
zur Seite.
Goldstein betrachtete
die
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