Frau Ella
rauszufahren, den Landsitz zu suchen, auf dem sie aufgewachsen war. Da hatte sie gelacht. Ein schäbiger kleiner Hof sei das gewesen. Morgen, hatte sie gesagt und auf diese unfassbar stilvolle Art und Weise an der Zigarette gezogen, morgen, schauen wir mal, wie die Welt dann aussieht. Wie ein Opfer hatte Frau Ella jedenfalls nicht gewirkt.
Sicherlich, der offiziellen Version zufolge hatte er sie gerettet, aber trug nicht auch sie einen Teil zu seiner Rettung bei? Noch nie hatte er es so genossen, auf dem Sofa zu liegen und den nächtlichen Geräuschen im Hof zu lauschen. Ein Baby, das kurz aufschrie, um sich sofort wieder zu beruhigen, einzelne Töne auf einer Gitarre, eine ganz leichte Brise in den Blättern der Kastanie. Dann eine stöhnende Frau. Das musste doch nicht sein! Warum mussten sie die zarte Idylle zerstören, sein kleines Glück? Sie hatten immer das Fenster zugemacht, damals, die langen Nächte mit Lina, all das, was nicht mehr wichtig war seit Frau Ellas Ankunft. Nein, das konnte er jetzt wirklich nicht gebrauchen. Er stand auf, schloss das Fenster, zog das Telefonkabel aus der Wand, legte den zusätzlichen Riegel vor die Wohnungstür. Natürlich war das lächerlich, aber er hatte das Gefühl, Zeichen setzen zu müssen. Wovor genau hatte er eigentlich Angst? Vielleicht vor der Vergangenheit oder der Zukunft, vor sich selbst, der Liebe oder der Verantwortung. Oder aber er hatte gar keine Angst. Zurück auf dem Sofa, hörte er Frau Ellas ruhiges Schnarchen und fühlte sich gleich wieder vollkommen wohl. Er hoffte einfach, dass alles genauso weitergehen würde.
9
SEINE EIER WAREN GENAU RICHTIG. So seltsam das war, diese musikalische Methode ihres Gastgebers funktionierte offenbar. Frau Ella saß am Küchentisch und betrachtete die leere Schale ihres Frühstückseies in diesem orange-blau gestreiften Eierbecher, während er den Abwasch machte. Das störte sie, zu ihrer eigenen Überraschung, überhaupt nicht mehr. Dass so viele Wahrheiten, die man im Laufe der Jahre über sich selbst und die Welt gesammelt hatte, am Ende gar keine Wahrheiten waren, hätte sie nie gedacht. Und das betraf nicht nur seine Eier! Sie, die, seit sie denken konnte, spätestens mit der Sonne aufstand, sie hatte heute glatt verschlafen. Und sie hatte sich wohl gefühlt, so angenehm warm und träge und doch auch frisch und ausgeruht, als ihr die Sonne ins Gesicht schien. Die Erinnerung an den vergangenen Abend hatte ihre Stimmung kurz getrübt, da sie ausgerechnet vor den jungen Leuten all das Alte wiederentdeckt hatte. Die ganze Vergangenheit. Doch immerhin waren das mal wieder Menschen, mit denen sie reden konnte, und so fremd waren die auch nicht mehr. Wem sonst hätte sie all das erzählen sollen?
»Haben Sie denn Lust auf eine Reise in Ihre Vergangenheit?«, hörte sie Sascha von der Spüle her fragen. »Oder ist Ihnen das zu viel?«
»Ach was. So ausgeschlafen, wie ich bin. Wenn es Sie denn interessiert, meinetwegen.«
»Wirklich?«
»Aber natürlich. Ich würde mir nur gerne vorher die Haare waschen.«
Zum Glück hatten sie ihr gestern dieses Tuch gekauft, unter dem sie ihre mittlerweile vollends aus der Form gegangenen Locken verstecken konnte. Langsam war es aber nicht nur eine Frage des Aussehens mehr, sondern eine der Hygiene. Auch duschen musste sie, eigentlich, doch war ihr das Bad hier nicht geheuer. Natürlich schaffte sie das alles noch alleine, bei sich zu Hause, wo jeder Griff saß, keine Überraschungen drohten. Aber hier? Schon die Vorstellung, auszurutschen und zu fallen, in dieser fremden Umgebung, reichte aus, um ihr jede Lust auf eine heiße Dusche zu nehmen.
»Soll ich Ihnen die Haare waschen?«, fragte er. »Ich meine, jetzt, wo ich schon mit dem Geschirr angefangen habe.«
»Da ist ja wohl noch ein kleiner Unterschied!«
»Trotzdem.«
»Sie sind mir schon einer. Einer alten Schachtel wie mir schöne Augen machen wie so ein Orientale!«
»Ein schönes Auge. Außerdem sind das die besten Friseure der Welt, die Armenier.«
Schlagfertig war er heute Morgen. Diese ganze schlaksige Unsicherheit der letzten Tage war verschwunden. Wäre sie ein paar Jahre jünger, müsste sie sich wohl in Acht nehmen. So aber freute sie sich einfach mit ihm. Vielleicht fehlte ihm ja doch diese Frau, von der sie immer so schlecht redeten, diese Lisa oder Tina, und jetzt hoffte er auf ihre Rückkehr. Zwar war Frau Ella selbst alles andere als erfahren in Liebesdingen, aber dass ihrem Gastgeber diese Frauengeschichte
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