Frauen und Bücher: Eine Leidenschaft mit Folgen (German Edition)
Familie ist frei von Idealisierung und falscher Empfindsamkeit. Die Amtmannin ist so grundklug wie lebenserfahren, mit einem ausgeprägten Sinn für die Realität, dabei nicht uneitel, zuweilen barsch und bissig, ein wenig geschwätzig und herrschsüchtig und vor allem ausgestattet mit den Gaben des Humors und der Selbstironie – auch das bei einer Schriftstellerin dieser Zeit eher eine Ausnahmeerscheinung.
Wie für viele Frauen ihrer Zeit ist Carolines Lektüre in den Clausthaler Ehejahren in erster Linie »Ersatz für die Welt«, wie sie selbst schreibt. Die Lust am Lesen vermittelte den Frauen nicht nur ein Stück Bildung, sondern kompensierte die den meisten von ihnen fehlende Lebenserfahrung. Neben den wenigen Gelegenheiten zur Geselligkeit und der brieflichen Kommunikation war ausschweifende Lektüre das einzige ihnen zur Verfügung stehende Mittel, an der Welt jenseits der Mauern ihres Hauses teilzuhaben und das Leben in seiner möglichen Vielfältigkeit kennenzulernen. Der sich zur selben Zeit entwickelnde Buchmarkt kam diesem Bedürfnis der Frauen entgegen, sodass sich kaum sagen lässt, was hier Ursache und was Wirkung war. Es war Wechselwirkung, eine Ko-Evolution von als Lesehunger daherkommendem weiblichem Lebenshunger und einer Literatur, die diesen Hunger stillen konnte.
Aber Caroline ist nicht einfach eine Vielleserin, auf welche die gängige Kritik zuträfe, wahllos zu verschlingen, was sie in die Finger kriegt, nur zu dem einen Zweck, sich die Zeit zu vertreiben. Caroline ist eine Frau auf der Suche nach der richtigen Verfassung ihrer Existenz. Nach drei Jahren Ehe in Clausthal und drei Geburten, dem plötzlichen Tod des Ehemanns und dem Tod des dritten Kindes sowie zahlreichen prägenden Lektüreerfahrungen nimmt sie in einem Brief an Meyer eine zukunftsweisende Standortbestimmung vor:
Ich weiß nicht, ob ich je ganz glücklich sein kann, aber das weiß ich, dass ich nie ganz unglücklich sein werde; Sie haben mich in einer Lage gekannt, wo ich, von allen Seiten eingeschränkt, durch den Druck meines eignen Gewichts niedersank – grausam bin ich herausgerissen, doch fühle ich, dass ich es bin, denn es ist hell um mich geworden als wenn ich zum erstenmal lebte, wie der Kranke, der ins Leben zurückkehrt und eine Kraft nach der andern wiedererlangt und neue reine Frühlingsluft atmet, und in nie empfundenem Bewusstsein schwelgt.
Dieses neue, freie Selbstgefühl, Frucht auch ihrer Leselust in den Clausthaler Jahren, wird Caroline zukünftig durch alle Lebenslagen und Schwierigkeiten hindurch begleiten. Als sie Meyer davon berichtet, lebt sie schon seit einiger Zeit wieder in ihrem Göttinger Elternhaus, hat sich aber bereits entschlossen, zu ihrem Bruder nach Marburg zu ziehen. Dort muss sie den krankheitsbedingten Verlust ihrer zweitgeborenen Tochter hinnehmen. Im August 1791 stirbt ihr Vater, das Göttinger Haus wird verkauft, die Mutter zieht nach Braunschweig. Für Caroline sind das alles Signale für den endgültigen Aufbruch in eine unabhängige weibliche Existenz. Ihre erste Station heißt Mainz, wohin Therese, Georg Forsters Frau, die junge Witwe eingeladen hat. Dort erlebt sie ihr bislang größtes und für den Fortgang ihres Lebens entscheidendes Abenteuer.
»Ich weiß nicht, wohin ich mich wenden soll, denn die heutigen Zeitungen enthalten so große prächtige Dinge, dass ich heiß von ihrer Lektüre geworden bin«, schreibt Caroline 1789 noch aus Marburg an ihre Schwester Lotte. Gemeint sind die Ereignisse der Französischen Revolution – die Erstürmung der Bastille am 14. Juli 1789, drei Tage darauf die erste Kapitulation des Königs, die Zerschlagung des Feudalsystems durch die Nationalversammlung in der Nacht vom 3. auf den 4. August, die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte am 26. August. Die französischen Umwälzungen halten damals ganz Europa in Atem. Nun, in Mainz, ist sie ihnen ein gutes Stück näher gerückt. Denn dort findet gerade ein einzigartiges Experiment statt: der Versuch, die Revolution auf deutschen Boden zu verpflanzen.
Beinahe jeden Nachmittag und Abend ist sie bei dem ihr noch aus Göttinger Tagen bekannten Weltumsegler Forster zu Gast, der seit 1788 Oberbibliothekar der Universität Mainz ist. Dort liest Caroline die »interessantesten Zeitungen, die seit Anbeginn der Welt erschienen sind«, und kommt mit revolutionärer Literatur in Kontakt. Sie liest Condorcet, der die Vervollkommnungsfähigkeit, die Perfektibilität des Menschen propagiert.
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