Frauen und Bücher: Eine Leidenschaft mit Folgen (German Edition)
Augen so ehrwürdig machen, dass uns das Urteil andrer in unserem geprüften und gerechten Urteil über uns selbst nicht irre machen kann.«
Der Oxforder Historiker Faramerz Dabhoiwala, Autor des Buches The Origins of Sex. A History of the First Sexual Revolution , vergleicht die damalige Revolutionierung der Sitten mit der sexuellen Befreiung der 1960er Jahre und kommt zu dem Schluss:
Um 1800 hat sich eine so vollkommen neue Art des Denkens etabliert, dass man nur von einer sexuellen Revolution sprechen kann, die viel fundamentaler war als die sexuelle Befreiung der 68er. Um 1650 wurde nur eines von 100 Kindern außerhalb der Ehe geboren. 1800 waren es 25 Prozent. Jahrhundertelang war klar definiert, was natürlich und unnatürlich, richtig und falsch, privat und öffentlich ist. Dieses Weltbild wurde von der ersten sexuellen Revolution total auf den Kopf gestellt. Zeitungen, Journale, Magazine – die Medienwelt explodierte. Frauen fanden immer mehr Gehör, wenn sie in journalistischen und literarischen Texten ihre Gefühlswelt beschrieben. Die Opfer bekamen eine Stimme. Es ist die große Zeit des Romans, einer vollkommen neuen Art des Schreibens, die den Leser viel direkter ins Bewusstsein der Figuren schauen lässt als ein Drama, das auf einer Bühne aufgeführt wird. Lesen und Leben befruchteten sich wechselseitig.
Mary Wollstonecraft hatte schon recht: Es gab Romane, darunter auch solche von Autorinnen, die der Abhängigkeit der Frau von »männlichen« Institutionen wie dem Heiratssystem Vorschub leisteten. Generell war der Geist der Romane jedoch rebellisch. Auch jenen Leserinnen, die außerhalb ihrer Lektüre kaum ein eigenes Leben hatten, vermittelten sie, was ansonsten nur das Leben lehrte. Den anderen bewiesen sie, dass sie mit ihren Gefühlen und Gedanken nicht alleinstanden. Die Romane waren Katalysatoren von Erfahrungen. Sie zeigten das Leben als ein »offenes System«, das nicht in einer Religion oder Philosophie, geschweige denn in einer Moral aufging: mit Bestimmungen und Umwegen, mit überraschenden Wendungen und unvorhergesehen Ausgängen, mit einer Herz- und einer Kopflinie, mit einer Ich- und einer Weltseite. Mit anderen Worten: Sie waren gnadenlos realistisch, so phantastisch die erzählten Begebenheiten zuweilen auch anmuteten. Beide, die Romane und die Revolution, deren seismische Wellen noch in Kleinstädten für durchaus wahrnehmbare Erschütterungen sorgten, stachelten den Widerspruchsgeist vieler Frauen an: Die Existenz, die sie führten, erschien ihnen auf einmal als nur eine von vielen Möglichkeiten und nicht selten als eine durchaus schlechte, zumindest verbesserungswürdige. Das Leben der Frauen, und damit auch das der Männer und Kinder, begann sich unwiderruflich zu verändern.
TEIL 2
Die Macht des Lesens Das 19. Jahrhundert
Cassandra Austen, Porträt von Jane Austen, ca. 1810, © De Agostini Picture Lib./akg-images
Was ist ein Frauenroman? Ein Roman, der von einer Frau geschrieben wurde? Dessen Hauptfigur weiblich ist? Oder der mehrheitlich von Frauen gelesen wird? Auf die Romane Jane Austens – am bekanntesten Stolz und Vorurteil – treffen alle drei Kriterien zu. Und wie sich zeigen wird, sind sie sogar viel mehr als »nur« Frauenromane.
6
Steventon, 1808
Die Unabhängigkeitserklärung
der Leserin: Jane Austen
Als die amerikanische Literaturwissenschaftlerin Patricia Meyer Spacks Anfang der 1980er Jahre nach China reiste, begegnete sie einer jungen Chinesin mit exzellenten Englischkenntnissen. Diese verriet ihr, dass sie viele englische Romane gelesen habe. Nach ihrem Lieblingsschriftsteller gefragt, lautete die spontane Antwort: Jane Austen. Die Chinesin hatte alle Romane von Jane Austen gelesen, nicht nur einmal, sondern wieder und wieder.
Patricia Meyer Spacks hielt mit ihrer Verwunderung nicht hinter dem Berg. Die Welt Jane Austens schien ihr so weit entfernt wie nur möglich zu sein von einer Gesellschaft, in der die Kulturrevolution erst in jüngster Zeit zu Ende gegangen war, einem Land, in dem Männer wie Frauen immer noch graue Kleidungsstücke trugen, die an Pyjamas erinnerten, und die meisten Menschen so redeten, als würden sie ununterbrochen aus dem Roten Buch zitieren. Zeugte es in einer solchen Umgebung nicht von überspannter Wirklichkeitsflucht, an den Gebräuchen und Sitten einer längst vergangenen kleinteiligen Welt Anfang des 19. Jahrhunderts Gefallen zu finden? Also fragte sie nach: Warum, bitte, liebte sie Jane Austen? »Oh«, kam die Antwort,
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