Frauenbataillon
hatte. Jetzt polterte er über die Straße, die gewaltigen Pranken in die Luft gestreckt, mit blutverschmiertem Maul, um den dicken Hals einen Strick. Einst schleifte so Hektor den besiegten Patroklos mit seinem Kampfwagen um die Mauern von Troja, ein Sieger, der das Grauen wie Lorbeer trug.
»Er soll präpariert werden – «, sagte Stella später in ihrem Haus. »Präpariert und ausgestopft. Ich will ihn immer vor mir stehen haben. Ich will ihn anspucken, schlagen, verfluchen! Und das Auge soll man ihm nicht ersetzen … ich will das Loch sehen!«
»Ja, das Auge.« Dr. Semaschko saß neben Stella auf der Bank am Ofen und ließ seine Fingergelenke wieder knacken. Was ihn innerlich beschäftigte, war kaum in Worte zu fassen. Da half nur das Ringen der Finger und das Knacken. Er trank zwei Schluck Birkenwein und beobachtete Stella, die nun aufstand, zu einer Kommode ging, eine Schublade aufschloß und ein in Pappe gebundenes, dickes Schriftstück hervorholte. Sie legte es auf den Tisch und kam zur Bank zurück. »Du wolltest etwas sagen?« fragte der Doktor.
Sie nickte, nippte am Wein und lehnte den Kopf weit zurück an den gemauerten, kalten Ofen. In einem Rahmen, um den ein schwarzer Schleier gebunden war, hing an der Wand gegenüber ein Foto von Pjotr Herrmannowitsch. Er war noch jung auf diesem Bild, das vor fast zwanzig Jahren von dem Fotografen Schemelnik aufgenommen worden war, der inzwischen längst tot war. Damals lebte auch Gamsat noch, ihr Sohn. Er war ein schöner Mann gewesen, der junge Salnikow, so wie auch die junge Stella eine Schönheit gewesen war. Man sah es noch jetzt … sie hatte etwas von der goldenen Reife eines gesegneten Herbstes.
»Wie heiße ich?« fragte sie plötzlich. Dr. Semaschko blinzelte sie dümmlich an.
»Stella Antonowna Salnikowa. – Was soll das?«
»Salnikow. Ja … diesen Namen haben wir uns ausgedacht. Genau gesagt: Wir haben ihn gestohlen.«
»Gestohlen?!« Dr. Semaschkos Finger knackten bedrohlich. »Mach keine schlechten Witze, Stellanka.«
»Es war 1943 in Charkow. Pjotr hieß damals noch nicht Pjotr – brauchte Papiere … er war ein Namenloser, ein Nichts, es gab ihn eigentlich gar nicht, und auch mich gab es nicht – nicht mehr –, obwohl ganz Rußland mich kannte.« Sie sah Semaschko an und lächelte begütigend. »Du wirst es bald verstehen, Wiljam Matwejewitsch. Da lebten wir in Charkow, es war Krieg, und wir hausten schlimmer als die Ratten, und wir wurden auch gejagt wie eine Ratte. Beim Ausladen eines Verwundetentransportes, bei dem Pjotr half, starb ein Genosse in seinen Armen. Dieser Mann hieß Pjotr Herrmannowitsch Salnikow. Mein Pjotr nahm die Papiere an sich und hieß von nun an so. Der Tote wurde namenlos begraben. Wir haben geweint vor Freude. Wir waren wieder Menschen, hatten einen Namen, konnten aus dem Rattenkeller heraus in die Sonne, konnten leben …« Sie trank wieder einen Schluck Birkenwein, sah hinüber zu Pjotrs Foto und nickte ihm zu, als habe er zu ihr gesagt: Es ist gut so, Stellinka … sprich es aus. Wiljam Matwejewitsch ist ein guter Freund …
»Kennst du Korolenkaja?« fragte sie unvermittelt.
Dr. Semaschko, der mühsam damit beschäftigt war, das eben Gehörte zu verarbeiten, zuckte erneut zusammen.
»Ist das ein Ort?«
»Schäme dich, Wiljam Matwejewitsch! So etwas will ein Patriot sein?! Korolenkaja ist ein Name …«
»Den man kennen muß?«
»Er steht in Stein gehauen auf einem Ehrenmal in Moskau. Man kann ihn in den Schulbüchern lesen. Hunderttausende Mädchen und Jungen kennen die Geschichte … die Geschichte der Korolenkaja, ›Heldin der Sowjetunion‹.«
»Mir dämmert etwas«, sagte Dr. Semaschko gedehnt. »Du lieber Himmel, ist das lange her. Was wurden damals nicht alles für Namen genannt!«
»Es gab im Großen Vaterländischen Krieg nur 91 Frauen, die ›Held der Sowjetunion‹ wurden. Mädchen, die an den vordersten Fronten kämpften. Über die Hälfte der ›Helden‹ waren Scharfschützinnen … auch Korolenkaja. Sie fiel, wurde von den Deutschen erschossen und verscharrt. Es steht in allen Schulbüchern: Bei Kasatschja-Lopan, an der Bahnlinie von Charkow nach Kursk, gab die Korolenkaja ihr Leben für Rußland.«
»Du hast sie gekannt?« Dr. Semaschko umfaßte sein Weinglas und wußte nicht mehr, was er denken, glauben und sagen sollte. Der Schuß in das Bärenauge, dieser präzise Meisterschuß bei Nebel und weiter Entfernung … Gott im Himmel, worauf läuft das hinaus?
»Lies diese Papiere
Weitere Kostenlose Bücher