Freche Mädchen... 10: Headline mit Herz
geringste Chance. Ich überlege, dir die Zeitung persönlich zu überreichen, druckfrisch und mit dem allergrößten Vergnügen, um dein Gesicht zu sehen, wenn du den Leitartikel liest. Jetzt bin ich froh darüber, dass du uns mit deinem Contest wachgerüttelt hast. Wie heißt das doch gleich? Konkurrenz belebt das Geschäft. Das wird man in unserem Fall merken. Für meinen Geschmack ist die nächste Insight die beste Ausgabe aller Zeiten.
Freu dich drauf!
Gruß, Merle
Und senden.
Jetzt aber keine Zeit mehr verlieren und mit dem Artikel anfangen. Ich öffne die nächste Mail in meinem Postfach, die von Lasse ist und in der er mir mehr als ein Dutzend Links zu Seiten schickt, in denen Mobbing hinterfragt wird. Studien, Reportagen, Fallbeispiele, Statistiken … Weltklasse!
Großartig, Lasse, denke ich, super Arbeit!
Auch Ilona hat mir eine Mail geschickt, mit Anhang. Wie schön, dass sie sich wirklich durchgerungen hat, unser Fallbeispiel zu sein. Sie hängt mir ein fünfseitiges Word-Dokument an, in dem sie bis ins Detail auflistet, wie das Mobbing bei ihr verlief.
Wie sie zum ersten Mal die Häme der anderen gespürt hat. Wie sie sich dabei gefühlt hat. Wie sie auf weitere Zeichen gelauert hat. Von ihren Albträumen und ihren Ängsten, überhaupt noch die Schule zu besuchen. Dass ihre Gedanken sich im Kreis drehten und kein Ende fanden. Wie die Konzentration nachließ, das Warten auf die nächste Gehässigkeit …
Ich überfliege den Text erst einmal nur, aber mir dreht sich dabei der Magen um. Tränen steigen mir in die Augen, nicht, weil Ilona mitleiderregend schreibt, sondern weil sich das alles echt und voll schmerzhaft anhört.
Ich kann Ilonas Kummer mit jeder Faser meines Herzens miterleben.
Wut breitet sich in mir aus wie ein wucherndes Geschwür. Wut auf diejenigen, die ihr das antun, Wut auf diejenigen, die tatenlos zusehen.
Ich hoffe sehr, dass wir mit unserem Artikel erreichen, dass die Leute sensibler werden.
Gerade habe ich Titel und Unterzeile geschrieben und beginne am ersten Absatz meiner Reportage zu feilen, als es an der Tür klingelt. Ich zucke zusammen, hebe den Kopf. Das Türbimmeln katapultiert mich wieder in die Gegenwart. Ich brauche ein paar Sekunden, um mich zu sortieren, dann fällt es mir ein.
Jenny.
Mein Blick geht nach rechts unten auf den Monitor. Kurz vor vier. Wie vereinbart.
Schon will ich aufspringen, um zu öffnen – aber halt! Es gibt doch eine bessere Möglichkeit …
Wenn ich Jenny jetzt die Tür aufmache, ist die Chance gering, dass sich Hendrik auf dem Flur blicken lässt, wie sie es sich erhofft. Der ist in seine Hausarbeit vertieft. Warum ihn also nicht gleich selbst zur Tür schicken?
Bin ich nicht eine Spitzenfreundin? Wie ich mich kümmere! Nur damit meine Freundin zu ihrem Tagesflirt kommt! Dass ich keinen Bock auf Jennys Gezapple und Drängeln habe, wenn sie in meinem Zimmer hockt und sich Pläne ersinnt, wie sie einen Blick auf meinen Bruder werfen könnte, steht auf einem anderen Blatt.
Ich chatte ihn über Skype an. Dass ich nur fünf Schritte gehen müsste, um bei ihm zu klopfen, tut nichts zur Sache, wenn er zwei Klicks entfernt ist.
Geh mal zur Tür. Hat geklingelt. Bestimmt für dich.
Ich hebe den Kopf und lausche. Zu antworten hält Hendrik nicht für nötig. Ich höre seine Schritte, dann, wie er die Tür öffnet. Ich klopfe mir innerlich selbst auf die Schulter für diese geniale Idee. Jenny kriegt einen Herzkasper, wenn Hendrik sie empfängt!
An Weiterarbeiten ist jetzt natürlich nicht zu denken. Meine Ohren sind auf Empfang. Hendriks schlurfende Schritte im Flur, der Summer, das Öffnen der Wohnungstür.
Leider, leider liegt der Eingangsbereich zu weit entfernt, als dass ich etwas verstehen könnte. Ich höre nur die Stimmen, die wie ein Duett klingen, bestehend aus einem brummenden Kontrabass und einer tirilierenden Flöte. Der Ton der Flöte steigert sich konstant, der Kontrabass tritt immer mehr in den Hintergrund, bis es fast ein Solo ist. Ich kichere in meine Hand. Go, Jenny, go – gib alles!
Das Gespräch der beiden dauert fast zehn Minuten und im Geiste male ich mir aus, wie sich Jenny vor mir in den Staub werfen wird vor Dankbarkeit. Das ist logischerweise der Tag, den sie in ihrem Kalender mit roten Herzen markieren wird: der Tag, an dem sie zehn Minuten lang den Megastar unserer Schule für sich alleine hatte. Ob sie die Chance nutzt? Ob mein Pfosten-Bruder irgendetwas außer Quark von sich gibt? Ich bin
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