Freiheit schmeckt wie Traenen und Champagner - Mein wunderbares Leben gegen den Strom
Familie! Lässt mich einfach zurück! Jedes Jahr aufs Neue.
Tagelang saß ich danach an meinem Fenster und träumte ihnen voller Sehnsucht hinterher.
»Im nächsten Jahr darfst du mitkommen!«
Auch das hatte ich schon letztes Jahr gehört, ebenso wie das Jahr zuvor.
Und doch saß hier wieder ein Häufchen Elend und wusste, sie hatten erneut gelogen. Wie jedes Jahr. Immer diese falschen Versprechungen! Wenn sie wenigstens den Mut hätten, die Wahrheit zu sagen.
Wütend, enttäuscht, verlassen. Dermaßen einsam. Mit leeren Augen schaue ich zum Kahwe hinüber. Was bleibt mir anderes übrig, als das Fenster weit zu öffnen und mich in mein Traumschauen zu flüchten. Komisch: Je trauriger ich bin, desto besser funktioniert es. Ich muss nur ganz ruhig werden, und schon tragen mich die Bilder fort. Schöner denn je sehe ich mich. Auf einem mit Blüten geschmückten
Boot in wehenden weißen Kleidern. Ich trage einen funkelnden Diamantring. So, wie kleine Mädchen sich das eben vorstellen …
Wenn ich groß bin, nehmen sie mich mit nach Deutschland. Dort werde ich mir genau so einen Ring kaufen.
Von Kindesbeinen an wurde meine emotionale Innenwelt nach einem klaren Prinzip organisiert: Zuwendung ist durch Anstrengung zu verdienen. Leistung und Gegenleistung. Bezahlen und bekommen, auch im Bereich der Gefühle, des Herzens, der Liebe. Was habe ich nicht alles unternommen für ein bisschen Lob und Anerkennung. Ich sehe sie vor mir, die kleine Ayşe mit ihren neun, zehn oder elf Jahren. Ein dünnes kleines Mädchen mit einem Herzen voller Sehnsucht. Sie versucht sich nützlich zu machen, wo es nur geht. Sie backt Kuchen, putzt und räumt den beiden Mitbewohnerinnen alles hinterher - in der Hoffnung, dass die Oma es merkt und endlich ein gutes Wort für sie übrig hat. Zu Hause so tüchtig und in der Schule eine kleine Streberin. Immer will sie ihr Bestes geben. Irgendwann gelingt es ihr, die Schwester in puncto Geschicklichkeit und Fleiß zu übertrumpfen. Sie kann besser kochen und backen, stricken, nähen und sticken als sie. So ein braves, fleißiges kleines Ding. Doch wo soll das hinführen, wenn ihre Leistung nicht belohnt wird?
Der einzige Mensch, der mir in jener Zeit das Gefühl gab, dass er mich ohne Wenn und Aber lieb hatte, war Vater. Dreimal, viermal im Jahr überraschte er uns mit einem Besuch übers verlängerte Wochenende. Ein Freudenfest! Er
machte sich einen Spaß daraus, ohne Anmeldung einfach in der Tür zu stehen und zu rufen:
» Ikizlerim - meine Zwillinge! «
Auf einen Schlag war der Raum voller Leben. Mit seinem strahlenden Lachen bezauberte er uns, wir waren hingerissen von seinem Charme, seinem ganzen Auftreten. Wir bewunderten, ja wir vergötterten ihn geradezu, unseren Baba.
Ich habe diese Bilder nicht nur mit jedem Detail in meiner Erinnerung bewahrt, sondern vermag auch die schönen Gefühle, die damit einhergingen, jederzeit wieder abzurufen. Selbst gewisse Übertreibungen in seiner Erscheinung und die Brüche in seinem Verhalten, die ich heute sehr wohl einzuschätzen weiß, trüben die positiven Empfindungen nicht. Ich trete innerlich jeder Einzelheit in meiner Erinnerung mit derselben naiven Zuneigung und Verehrung gegenüber wie damals, als es Gegenwart war. Ja, ich idealisierte meinen Vater nur zu gern, obwohl er entscheidend dazu beitrug, dass ich mir ein inneres Gefängnis erbaute, aus dem nur schwer zu entkommen war.
So sah ich meinen Vater als Mittvierziger: ein attraktiver, gut angezogener Mann. Auf Stippvisite bei uns trug er stets Sonntagskleidung: ein weißes Hemd, perlmutterne Manschettenknöpfe mit goldener Fassung, eine auffällige Krawatte. Glitzernde Ringe mit großen Steinen und eine schwere goldene Kette um den Hals. In der kalten Jahreszeit liebte er russische Fellmützen und Jacken mit Pelzbesatz. Für mich sah er aus wie ein Filmstar, und ich bewahre diese Gefühle noch heute wie ein inneres Heiligtum.
Er war mein Idol, und ich fürchte, er ist es im Unterbewusstsein
immer noch. Immer wieder habe ich mich in Männer verliebt, die mich an meinen Vater erinnern. Er war außergewöhnlich groß - 1,96 Meter - und überragte damit fast alle seine Landsleute. Sein Körper war muskulös und geschmeidig, das Gesicht männlich-markant, sein Haar pechschwarz, die Wimpern lang und seidig. Etwas ganz Besonderes schien mir der warme Olivton seiner Haut, ein Erbteil von seiner Mutter.
Natürlich gab er sich als Patriarch, wie er im Buche steht. Stärken und Schwächen
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