Freiheit schmeckt wie Traenen und Champagner - Mein wunderbares Leben gegen den Strom
rollt die erste Welle der Angst auf mich zu. Wie viele Frauen in Vaters Familie haben eigentlich Zwillinge bekommen? Und wie viele dieser Kinder sind gestorben? Wie wird es wohl bei mir ausgehen?
Und dann die zweite Welle. Wo sollen wir bloß hin, nun gleich mit zwei Kindern im Körbchen? Wir haben ja nicht mal eine eigene Bleibe. Was ist denn nun mit Bekir? Warum hat er es noch immer nicht geschafft, eine Wohnung für uns zu finden?
Ich brauche jetzt jemanden, dem ich mein Inneres offenbaren kann. Hatice! Wen sonst? Ja, wir müssen endlich wieder Kontakt aufnehmen. Seit Monaten haben wir nichts voneinander gehört! Okay, so richtig warm sind wir seit meiner Flucht aus Darmstadt noch nicht wieder geworden. Immerhin hat sie mir zur Hochzeit gratuliert, als Einzige aus der Familie. Das heißt doch wohl, dass sie mich nicht abgeschrieben hat? Eine von uns beiden muss einfach den ersten Schritt machen und das Eis brechen. Spontan greife ich zum Telefonhörer.
Halten - oder verkaufen?
W er wird jetzt abheben? Sollten es Mutter oder Vater sein, lege ich sofort wieder auf.
»Ja bitte.«
Ich habe Glück! Hatices Stimme klingt so vertraut wie eh und je, doch ein wenig matt.
»Wie geht es dir, Hatice?«
Ein tiefer Seufzer.
»Ach, Ayşe, ich bin froh, dass du anrufst.«
Aus Seufzen wird Schniefen.
»Bist du allein? Kannst du reden?«
Noch ein Seufzer.
»Ja, kein Problem.«
»Und, was ist denn los?«
Ich hatte gedacht, ich könnte ihr mein Herz ausschütten, aber nun bin ich es wohl, die ihr ein Ohr schenken muss. Auch gut, schließlich sind wir ein Herz und eine Seele. Wie könnte ich sagen, wo du aufhörst und wo ich beginne, meine Schwester?
Schon fließen die ersten Tränen. Nachdem sie mehrere Papiertaschentücher verbraucht hat, kommt sie ins Reden. Es ist doch unglaublich! Auch sie soll jetzt »auf türkische Art und Weise« verheiratet werden.
»Hatice, jetzt mal von Anfang an. Ich hätte geglaubt, Baba hätte was gelernt aus der Sache mit mir.«
»Ach was. Was glaubst denn du, was ich wegen dir zu hören bekommen habe! Immer wenn es hieß, du würdest nur Schande über uns bringen, hatte ich das Gefühl, sie meinten mich gleich mit. Es war als Drohung gemeint.«
»Und dann haben sie einen Mann für dich ausgesucht?«
»Na, du weißt doch, wie das läuft. Ich bin ihnen lieber zuvorgekommen, als dass sie mir jemanden vor die Nase gesetzt hätten. So habe ich mir jetzt den erstbesten ausgesucht. Hauptsache, Baba hat seinen Willen.«
Und ich hatte keinen blassen Schimmer. Ich muss sie jetzt aufbauen, ganz gleich, wie beschissen es mir selber geht. Aber erst mal muss ich sie zum Reden bringen.
»Wen wirst du denn heiraten? Erzähl mir was über den Kerl.«
»Was gibt’s da zu erzählen? Ich hab ihn doch erst zweimal gesehen. Ist mir aber auch total egal. Ich will nur raus hier. Ich halt es nicht mehr aus.«
Nun bekam ich die ganze traurige Geschichte von Anfang an zu hören. Meine eigenen Probleme spielten in diesem Gespräch keine Rolle mehr. Ich glaube, das tat mir sogar ganz gut. Es ist gar nicht so schlecht, ein wenig abgelenkt zu werden, wenn man mit dem Rücken zur Wand steht. Von den Problemen anderer Menschen zu erfahren, relativiert die eigenen Schwierigkeiten. Wenigstens vorübergehend.
Das Verhalten türkischer Eltern mit mannbaren Töchtern und heiratsfähigen Söhnen ähnelt dem von Investoren, die ihre Aktien entweder auf »Halten« oder auf »Verkaufen« stellen. Je nachdem, welches Angebot vorliegt. Sowohl auf
dem Käufer- als auch auf dem Verkäufermarkt möchte man immer bestens informiert sein. Substanzwerte, Schnäppchen, Ladenhüter, Zukunftswerte - all das muss richtig eingestuft werden, wenn man nicht verlieren will in diesem Spiel mit der Zukunft junger Menschen. Oft fast Kindern noch. Ein Spiel, in dem leidenschaftlich gern mit gezinkten Karten gearbeitet wird. Denn verlieren will keiner. Sondern immer nur Gewinn machen.
Im Darmstädter Türkenviertel hatte sich herumgesprochen, dass unter Turhans Dach eine hübsche Braut heranwuchs. Der Anruf beim Chef des Hauses kam vom Freund des angeheirateten Vetters eines Blutsverwandten. Oder so ähnlich. Keine schlechte Connection jedenfalls, die richtige Mischung aus Nähe und Distanz.
Natürlich vorerst nur eine unverbindliche Anfrage: ob eine Familienvisite genehm sei? Dass der Sohn auf Freiersfüßen wandelte, wusste der Brautvater längst. Als Marktteilnehmer auf der Verkäuferseite wusste er auch um den Wert seines
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