Freiheit statt Kapitalismus
SPD-Wirtschaftsministers mit der CDU, die sich in den Jahren nach 1947 immer stärker von der Linie ihres Ahlener Programms verabschiedete, eskalierten bereits im Prozess der Gesetzeserarbeitung. Im Oktober 1950 wurde das Gesetz im Landtag mit 41 zu 41 Stimmen abgelehnt. Damit war das Sozialisierungsprojekt tot, im Parlament wurde sich dreist über den erfolgreichen Volksentscheid hinweggesetzt. Die wenigen bereits in öffentliche Verwaltung übernommenen Unternehmen wurden Schritt für Schritt ihren alten Eigentümern zurückgegeben.
Da der Verfassungsartikel zunehmend so ausgelegt wurde, dass er sich nur auf Firmen mit Sitz in Hessen bezog, hätte die Sozialisierung ohnehin nur sehr wenige Unternehmen betroffen. Dieser enge Fokus war ein ernsthaftes Problem, das erheblich an der Glaubwürdigkeit des Sozialisierungsprojekts nagte. Denn die Oligopole im Bereich der Chemie- und Metallverarbeitung blieben dadurch ebenso ausgespart wie die wirklich großen Unternehmen in den betroffenen Branchen, weil diese ihren Sitz nicht in Hessen hatten oder ihn eilig verlegten. Stattdessen fielen teilweise recht kleine Firmen unter das Gesetz, über deren Sozialisierungsbedarf man zu Recht geteilter Meinung sein konnte. Zur Verhinderung privatwirtschaftlicher Macht hätte eine solche eingeschränkte Sozialisierung selbst im Erfolgsfall nur wenig beigetragen. Auch ist offen, ob der festgeschriebene Gewinnverzicht in den sozialisierten Industrien nicht – ähnlich wie in England und Österreich – nur zu einer Subventionierung der privaten Wirtschaft durch billige Grundstoffe geführt hätte.
All dieser Probleme und offenen Fragen ungeachtet, ist das hessische Sozialisierungsvorhaben schon deshalb interessant, weil es als Einziges der deutschen Nachkriegszeit bis zur Formulierung eines detaillierten Gesetzentwurfs konkretisiert worden war. Dieser Entwurf zeigt einmal mehr, dass öffentliches beziehungsweise Gemeineigentum nicht die Unterstellung von Betrieben unter staatliche Zwangsverwaltung bedeutet, sondern eine große Vielfalt an Varianten – ausgehend von den jeweiligen Zielstellungen der Sozialisierung – möglich ist.
Im Grundgesetz, das im Mai 1949 vom Parlamentarischen Rat angenommen wurde, wurden Vergesellschaftungsforderungen bzw.-optionen bei weitem nicht mehr mit der Deutlichkeit formuliert wie in den meisten Landesverfassungen. Es trägt vielmehr Züge eines Kompromisses, der die Frage der Wirtschaftsordnung und die Relation zwischen privatwirtschaftlichem und gemeinwirtschaftlichem Sektor ausdrücklich offenlässt. Mit den Artikeln 14 und 15 GG – der Allgemeinwohlverpflichtung des Eigentums und der Möglichkeit einer Überführung von »Grund und Boden, Naturschätzen und Produktionsmitteln … in Gemeineigentum« – wird eine durch öffentliches Eigentum dominierte Wirtschaft als verfassungskonforme Möglichkeit vorgesehen und steht damit verfassungsrechtlich auf einer Stufe mit einem sozialstaatlich regulierten Kapitalismus als anderer Option. Je eine dieser beiden Möglichkeiten entsprach der damaligen Programmatik einer der beiden großen Parteien: Während die CDU die Linie ihres Ahlener Programms bereits verlassen hatte und sich mit den Düsseldorfer Leitsätzen zu einer sozial regulierten privatwirtschaftlichen Ordnung bekannte, hatten gemeinwirtschaftliche Ideen in der SPD zu diesem Zeitpunkt noch einen relativ starken Rückhalt. Da das Grundgesetz der Zustimmung beider Parteien bedurfte, musste es für beide Möglichkeiten offenbleiben.
Das Bundesverfassungsgericht hat diese »wirtschaftspolitische Neutralität« des Grundgesetzes in seiner Rechtsprechung wiederholt bestätigt und in einem Urteil aus dem Jahr 1954 festgehalten, »dass sich der Verfassungsgeber nicht ausdrücklich für ein bestimmtes Wirtschaftssystem entschieden hat. … Die gegenwärtige Wirtschafts- und Sozialordnung ist zwar eine nach dem Grundgesetz mögliche Ordnung, keineswegs aber die allein mögliche.« 177 Nach dem Grundgesetz ausgeschlossen ist eigentlich nur ausgerechnet die Wirtschaftsordnung, die wir heute haben: ein sozial weitgehend ungebändigter Kapitalismus, in dem sich privates Profitstreben über alle Interessen des Allgemeinwohls hinwegsetzen kann.
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