Fremde Federn
quitt!«
An einem faulen Nachmittag im Juni prüften sie die neue Tür des Scheunenanbaus. Bienen summten in den Blumenbeeten, die Ryan um das Haus herum angelegt hatte. Ryan schlug die Türe mehrere Male kräftig zu, dann nahm er ein Messer aus der Tasche und kratzte damit Farbspritzer von der Scheibe ab. Er erklärte, jetzt sei der Anbau fertig.
»Und was nun?« fragte er, als sie zum Haus zurückschlenderten. Carl, wie immer hinter ihm, ließ Ryan Zeit für jeden mißlichen Schritt.
»Am liebsten würde ich fliegen und damit Geld verdienen. Gibt es so einen Job?«
Mit einem seiner raren Lächeln antwortete Ryan: »Klar gibt es den, wenn du nichts dagegen hast, ein- bis zweimal täglich dein Leben zu riskieren.«
»Das bin ich gewöhnt«, sagte Carl. »Wovon sprichst du?«
Beim Betreten der Küche stieg ihnen der köstliche Geruch eines in einem Eisentopf brutzelnden Bratens in die Nase. Ryan wies Carl an, sich zu setzen, während er etwas holte. Er kam mit einer schmutzigen, an den Ecken geknickten Visitenkarte zurück.
»Dieser Knabe war letzten Herbst mit seiner Flugschau in Redlands. Ein Kunstflieger. Er hat mir erzählt, daß seine Piloten laufend kündigen, weil die Flugkunststücke so gefährlich sind.«
RENE LE MAYE
Zirkus der Lüfte
Preisliste auf Anfrage
Auf der Karte stand eine Adresse: Postamt, El Paso, Texas.
»Franzose?«
»Richtig. Viele Franzosen interessieren sich für Flugzeuge. Bleriot, Paulhan - der war letztes Jahr bei der Flugschau in Los Angeles. Die Amerikaner hinken den Franzosen leider hinterher. Dieser René verriet mir, der Barkeeper im Hotel Sheldon in El Paso wisse immer, wo er zu finden sei.«
»Ich finde ihn.«
»Hast du Geld für die Fahrkarte?«
»Ich brauch’ keine Fahrkarte. Ich such’ mir ein Plätzchen in einem Güterwaggon.«
»Ist das nicht gefährlich?«
»Auch nicht gefährlicher als fliegen.« Oder für Barney zu arbeiten. »Man muß nur den Eisenbahnern aus dem Weg gehen, das ist das ganze Geheimnis. Die brechen einem die Beine schneller, als man sie sich bei einem verpatzten Sprung aus dem fahrenden Zug bricht.«
»Na, dann bist du wahrscheinlich genau der Verrückte, den dieser Franzmann sucht.«
Ryan schlurfte zum Herd. Mit Heißhunger machten sie sich über die herzhafte Mahlzeit aus Braten, Kartoffeln, grünen Bohnen und selbstgebackenem Sauerteigbrot her und goßen Bourbon hinterher, den Ryan für besondere Gelegenheiten aufbewahrte. Er sagte: »Ich hab’ dich gern hier gehabt. Du wirst mir fehlen.«
»Ich bin dir sehr dankbar für das, was du mir beigebracht hast.«
»Einen neuen Piloten in die Welt hinauszuschicken, das ist so, als würde man selbst hinausziehen. Na ja, jedenfalls fast.« Er prostete Carl mit dem Whiskey zu und trank ihn in hastigen Schlucken aus.
»Marie hat die Fliegerei überhaupt nicht gemocht, genauso wenig wie die anderen neuen Sachen, Erfindungen. Sie hat nicht begriffen, was es für ein erhebendes Gefühl ist, aufzusteigen, die Wolkengebirge zu sehen, die Spielzeugstädte, die winzigen Menschen. Dort oben schrumpfen deine Sorgen zusammen, bis sie überhaupt nicht mehr wichtig erscheinen.« Ryan strich mit der Hand über den polierten Stock, der auf dem leeren Stuhl zwischen ihnen lag.
»Da hast du recht«, stimmte ihm Carl zu. »Genauso ging es mir, als ich das erste Mal abhob.«
Vielleicht brach nun ein neues Kapitel in seinem Leben an. Er fragte sich, was Tess wohl dazu sagen würde.
57. ENTSCHEIDUNG
Fritzi lag in demselben New Yorker Hospital, in dem sie damals Eddie besucht hatte. Der behandelnde Arzt, ein gutaussehender, nüchterner Mann mit silbrigem Bart, hieß Lilyveldt. Er kannte die Umstände ihres Sturzes und teilte ihr ohne Umschweife mit, er stamme aus einer alten New Yorker Familie, die mit Schauspielern nichts zu tun haben wolle. Während er sie untersuchte, gab er ihr ständig mehr oder weniger deutliche Ratschläge, wie sie diesen Beruf so schnell wie möglich an den Nagel hängen könne.
Offenbar hatte sie sich ihren linken Knöchel schlimm verstaucht, als sie die letzten Sprossen der Feuerleiter hinuntergefallen war. Sie erinnerte sich an den stechenden Schmerz, bevor sie ohnmächtig geworden war, aber danach an gar nichts - weder an die Wucht des Aufpralls, der ihre Stirn blau verfärbt hatte, noch an ihren blutenden Kopf, der mit sechs Stichen genäht werden mußte. Man hatte ihr das unbändige blonde Haar abrasiert, um die Wunde versorgen zu können. Als der Verband erneuert wurde,
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