Fremde Federn
daß man auf der Welt nicht alles haben kann. Eine Lektion, die ich gerade erneut gelernt habe. Natürlich bleiben wir Freunde. Es ist nicht nur, daß ich Sie mag, ich muß auch zugeben, daß ich Ihre Charakterstärke bewundere, obwohl ich Sie lieber in meinem Bett bewundert hätte.«
Er lächelte und blinzelte. Sie lachte wieder. Sie mochte diesen draufgängerischen kleinen Mann.
»Sollen wir zurückgehen?« fragte er. Sie hängte sich bei ihm ein, während sie im Mondlicht den Pier entlangspazierten. Die Dampforgel spielte Over the Waves. Die hübschen Lichter des Riesenrads drehten sich in der Nacht. Die Achterbahn ratterte und raste.
»Es ist wunderschön hier draußen«, sagte sie und spürte dem Geschmack der salzigen Luft auf ihrer Zunge nach. »Ich werde diesen Abend nie vergessen.«
»Oh, ich würde mich nicht wundern, wenn das meiste Ihrem Gedächtnis entfallen würde«, widersprach Charlie. »Wir gehören einer hektischen Branche an. Aber vergessen Sie wenigstens nicht, was ich über das Komischsein gesagt habe.«
62. INCEVILLE
Im März 1914 brachte Pathe die erste Episode einer mehrteiligen Serie unter dem Titel Paulines Bedrängnis heraus. Die Schauspielerin Pearl White wurde dadurch über Nacht zum Star, der Mehrteiler Hollywoods neuester Hit. B. B. und Hayman zogen mit Serien nach, die rasch produziert wurden: Elaines Heldentaten, Helens Launen, Dollie von der Regenbogenpresse. Eddie und Lily schrieben gemeinsam Drehbücher für zwölf Episoden von Alice’ Abenteuer, von Kelly gedrängt, alles bis zum ersten April fertigzustellen. Fritzi mußte die Hauptrolle übernehmen, eine feurige Erbin, die ein böser Verwandter um ihr Erbe bringen wollte. Er beschloß, sie aus dem Weg zu räumen.
Bis in den Frühsommer hinein wurde sie auf das laufende Band einer surrenden Kreissäge gebunden, an einen Pfosten neben einem Boiler gekettet, der kurz vor dem Explodieren war, von einem fahrenden Güterwaggon geworfen - wofür eine Puppe herhalten mußte -, aus einem fliegenden Doppeldecker geschleudert und dergleichen mehr. Ihr Einwurf, alle Handlanger des bösen Verwandten seien lateinamerikanischer und chinesischer Herkunft oder Schwarze und man solle um des Gleichgewichts willen auch ein paar weiße Schurken dazunehmen, wurde von Kelly kategorisch abgewiesen:
»Kommt nicht in Frage! Wir leben in einem weißen Land. Das Publikum erwartet, daß der Böse ein Nigger, ein Mexikaner oder ein Schlitzauge ist.« Nach einer kurzen Auseinandersetzung gab Fritzi schließlich auf. Mit der Zeit machte ihr die Rolle der Alice sogar Spaß, denn sie verkörperte eine aktive, mutige »neue Frau« und kein lammfrommes Heimchen am Herd.
Als die ersten Episoden der Serie im Juni in den Filmtheatern gezeigt wurden, waren sie binnen kürzester Zeit ein Renner. B. B. köderte Fritzi mit einhundertfünfundzwanzig Dollar pro Woche, um dann vorsichtig die Katze aus dem Sack zu lassen: Er bat sie, noch einen Western zu drehen. Diesmal mit einer komischen Rolle für sie. Eddies Wunsch?
»Ich hatte einen Einfall, er hat ihn gut gefunden und verarbeitet. Bitte!«
»Nein, nein, nein, B. B. Sie haben mir ernste Rollen versprochen, nicht immer nur diese albernen.«
B. B.s Mundwinkel verzogen sich nach unten. »Also gut, mein Mädchen, ich will Sie nicht zwingen. Nicht wenn Sie einem Menschen, der nur Ihr Bestes will, so ablehnend gegenüberstehen. Wir wollen auch nicht an unsere Mitarbeiter denken, deren Frauen und Kinder vom Erfolg dieser Firma abhängen. Nein, das wollen wir nicht. Aus. Amen. Vorbei. Ende.«
Guter Gott, jetzt hatte sie also zwei Väter, denen sie es nicht recht machte.
An einem goldenen Samstag im Sommer traf sich Fritzi mit ihrem neuen Freund Charlie zum Mittagessen in einem Gemischtwarenladen gegenüber von Macks Studio. Sie kauften Wurstsandwiches und Getränke und ließen sich an einem Holztisch in einem sonnigen, mit Wein überwachsenen Hof unweit des Ladens nieder. Nicht weit von ihnen entfernt schlief ein Tramp zwischen den Rebstöcken. Ein Wagen, auf dem sich beschädigte Möbel und ausrangierte Armaturen türmten, fuhr vor. Der Altwarenhändler stieg aus und betrat den Laden. Charlie rümpfte die Nase.
»Nicht gerade aus dem Mayfair oder dem Ritz die Leute hier.«
Fritzi erzählte ihm von B. B.s Angebot, das sie abgelehnt hatte. Seine Antwort war kurz und bündig: »Gut so! Sie haben Besseres verdient. Nicht nachgeben!«
Charlie trug heute übergroße Schuhe, sackartige Hosen, einen zu engen Rock,
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