Fremde Federn
ein feindlicher Pilot abgeworfen hat«, wurde ihm erklärt.
Carl übersetzte den Brief ohne Probleme:
»Reinhard Grotzmann, der Pilot, den Sie vor ein paar Wochen abgeschossen haben, war ein Freund und Kamerad. Er kam wie ich von der Infanterie. Als ich von seinem Tod hörte, war ich entschlossen, den Täter zu finden und Gleiches mit Gleichem zu vergelten.
Mitten in unserer Verfolgungsjagd änderte ich jedoch meine Meinung aus einem einfachen Grund: Wenige Piloten haben mich bisher so herausgefordert wie Sie, Sir. Ich würde mich freuen, wenn wir uns ein zweites Mal begegneten, aber nicht als Feinde. Vielleicht besuchen Sie eines Tages mein Vaterland unter günstigeren Umständen, dann würde ich einem Mann wie Ihnen gern die Hand schütteln. Das Hauptquartier weiß immer, wo ich mich aufhalte, da meine berufliche Laufbahn der Armee verschrieben ist.
Mit guten Wünschen für Ihre Gesundheit verbleibe ich
Ihr ergebenster
Hauptmann Hermann Göring«
Carl schleuderte den Brief zu Boden und drehte das Gesicht zur Wand.
Der deutsche Offizier tat, als seien sie Schauspieler in einem historischen Stück, bei dem es um Tapferkeit und Ritterlichkeit ging - so einen Krieg gab es jedoch schon lange nicht mehr. Zu Carls Schwadron gehörten kompromißlose Piloten, die überzeugend dafür eintraten, die Luftwaffe nicht auf strategische Missionen auf dem Schlachtfeld zu beschränken, sondern sie auch gegen Fabriken, Eisenbahnanlagen, Städte - und Zivilisten - einzusetzen, um die Industrie an ihrer Basis zu zerstören, die Bevölkerung zu demoralisieren und damit die Kapitulation zu beschleunigen. Hauptmann Göring würde diese Taktik nicht begreifen, während jene Männer, welche die Zeppeline nach London schickten, sie bereits in die Tat umgesetzt hatten.
Dieser Deutsche mußte einer von der altmodischen, gutgläubigen Sorte sein, schloß Carl, als er, den Kopf auf der gesunden Hand ruhend, im Bett lag und ins Leere starrte, während andere Verwundete in der übelriechenden Krankenstation phantasierten und stöhnten.
Hauptmann Göring war von einem Ideal beseelt, das Carl in dem Blut und den Leiden eines Krieges, der nur noch ein Abschlachten war, dahinwelken und sterben sah.
»Eine telegraphische Botschaft«, sagten sie und zeigten ihm ein zusammengefaltetes, schmutziges Stück Papier. »Um einiges verspätet.«
Carl las die ersten Zeilen. »O Gott!« Dann las er weiter. Der General hatte den Schlaganfall überlebt.
Carl glättete das Papier, legte es auf den groben Stoff seines Krankenhaushemdes und bedeckte es mit den Händen. Er starrte an die Decke. Jemand schrie vor Schmerz. Er schloß die Augen und fühlte sich nutzlos und einsam.
In Paris, wo Carl auf dem Weg an die Küste haltmachte, besuchte er ein Kino, um sich seine Schwester anzusehen. Inzwischen ging es ihm besser, auch wenn er seinen linken Arm noch nicht bewegen konnte und nur von Zeit zu Zeit ein schwaches Kribbeln spürte. Er trug ihn in einer schwarzen Schlinge.
Wegen des Krieges waren fast alle französischen Filmstudios geschlossen. Die Filmtheater waren auf amerikanische Produktionen angewiesen, und ganz oben auf der Beliebtheitsskala standen die Streifen mit der wilden Nell. Die Franzosen nannten sie die tolpatschige Nell. Nell Gauche au Cirque zeigte die üblichen Mißgeschicke des liebenswerten Wildfangs, der bis zum Schluß nichts richtig machen konnte. Zuerst warf Nell eine Zeltstange um, dann das ganze Zelt. Die Zirkuskasse fiel ihr in einen Brunnen, dann verbrannte sie das nasse Geld, als sie es im Backofen trocknen wollte. Doch als sich der Löwe befreit hatte, war sie die Retterin in der Not, auch wenn ihr Fuß dabei in einem Eimer feststeckte. Mit einem Lächeln und schmeichelnden Worten zähmte sie die Bestie, die sich hinlegte, auf die Seite rollte und ihr die Wange leckte.
Carl betrachtete Fritzis Filme stets mit einem seltsamen Gefühl. Auf der Leinwand war sie so gänzlich anders als die ältere Schwester, mit der er zusammengelebt, die er geneckt und angebetet hatte. Sie hatte immer eine große ernsthafte Theaterschauspielerin werden wollen, doch sie war durch Komödien berühmt geworden. Daß Fritzi ihren Ruhm verdiente, bestätigten die Lachsalven und das Kichern der kriegsmüden Franzosen rund um Carl. Silbrige Schatten flackerten auf seinem lächelnden Gesicht.
Als er das Filmtheater verließ, regnete es noch immer. Zwei Stunden lang saß er in einer Hotelbar und dachte an Tess.
87. IN DEN SCHÜTZENGRÄBEN
»Muß der
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