Frettnapf: Roman
auf dem Schoß.
» Noch am Flirten?«
» Ich chatte.«
» Echt? Das hab ich so gut wie nie gemacht.«
» Ich seit Compuserve.«
» Aha.«
Mein Vater wirkt grimmiger als vorhin, hackt stoisch Worte in seine Maschine.
» Mit wem?«
» Kennst du nicht.«
» Linda?«
» Nein. Aber wegen ihr.«
» Warum?«
» Sie hat sich abgemeldet. Jetzt versuche ich vom Administrator ihre Mailadresse zu bekommen. Sie hat sie mir mal im Chat geschickt, aber ich hab sie nicht notiert.«
» Und?«
» Wird nichts.«
» War Linda dein einziger Kontakt? Du warst doch auf verschiedenen Börsen.«
» Nur um zu sehen, ob sie dort auch ist.«
» Verstehe.«
» Dauert das noch lange?«
» Mal sehen.«
Es fühlt sich an, als würde er sich von mir verabschieden. Seinen alten Ton wieder anlegen, in die Kurzangebundenheit schlüpfen, sich die schlechte Laune wieder über die Schultern werfen, um so, wieder ganz er selbst, mit der U-Bahn zurück nach Feldmoching zu fahren.
» Willst du drüber reden?«
Wenn es je einen kritischen Punkt in der desaströsen Beziehung zwischen mir und ihm gegeben hat, dann diesen. Doch tatsächlich klappt mein Vater seinen Computer zu und bedeutet mir, mich zu ihm ins Boot zu setzen.
Linda war für meinen Vater mehr als ein Flirt im Internet. Sie war sein Anker, die Person, der er in den vergangenen Monaten alles anvertraut hat. Seinen Kummer, seine Sorgen, seine Angst vor dem Sterben. Vor allem aber seine Einsamkeit. Sie hat ihn erkennen lassen, dass er sich diese selbst zuzuschreiben hat. Er war schließlich derjenige in unserer Familie, der sich sein kleines Refugium unter dem Dach gebaut hat, in dem er verschwunden ist. Von seiner Depression bekamen wir nichts mit, da er sich gegenüber mir und meiner Mutter nie geöffnet hatte. Vor mir wollte er nicht schwach sein, vor seiner Frau nicht zugeben, dass er unglücklich war. Mit sich, seinem Leben und dem, was er daraus gemacht hat.
Sie hat das allerdings mitbekommen, meine Mutter ist ja nicht blöd, sondern im Gegenteil sehr sensibel. Warum sie sich immer so fürsorglich gibt und sich auch ihm gegenüber zu einer Art Mutterfigur entwickelt hat, verstehen wir beide nicht.
» Das fing an, als du da warst«, erzählt Papa. » Mei, da war eben wenig Zeit für uns, eigentlich gar keine mehr. Kinderkrippen und solchen Schmarrn hatten wir nicht, die Mama hat drei Jahre zu Hause verbracht, und ich war immer in der Schule. Geredet haben wir auch zu wenig, weil nie Zeit war, du hast ja immer geschrien.«
» Hauptsache, du hast einen Schuldigen.«
» Schmarrn. Es war halt so.«
Sein Lamento will gar nicht aufhören. Nie hat er sich Zeit für sich genommen, war immer für Mama und mich da, obwohl er so gerne mehr von der Welt gesehen hätte. Gerade als Lehrer hätte er doch Zeit gehabt, die Welt zu bereisen. Aber er war immer zu Hause oder mit uns in Italien. Deswegen sei es nur konsequent, dass er das nun ändern wollte.
» Wie, du wolltest?«
» Ich kann ja nicht«, erklärt er mir. » Seit drei Monaten will Linda mich treffen, endlich mal mit mir sprechen. Deshalb hat sie mir die Frist gesetzt, jetzt oder nie, Pistole auf die Brust.«
» Und die ist gestern abgelaufen?«
Keine Antwort, nur ein Seufzen. Er mag ein schwieriger Lehrer und ein komplizierter Vater sein, aber vor allem ist er nicht fähig, über seinen Schatten zu springen. Was eigentlich falsch ausgedrückt ist, denn es deutet an, dass meine Mutter sein Schatten wäre. Ist sie jedoch nicht, sie ist seine Sonne, der er nicht den Rücken zuwenden kann, um über den Schatten zu springen, den er selbst auf alles wirft, was hinter ihm liegt.
Ganz so kompliziert verpacke ich meine Analyse für ihn jedoch nicht. Ich sage ihm nur, dass ich froh bin, weiterhin eine Familie zu haben. Gerade jetzt, wo ich mit der Gründung meiner eigenen gescheitert bin. Was Papa ganz anders sieht.
» Schau, du bist halt genauso verkrampft wie ich. Vor allem, was deine selbst aufgestellten moralischen Vorstellungen angeht.«
» Willst du mir sagen, dass ich mich mit Jessi so arrangieren sollte, dass sie Liebhaber wie Leo haben kann? Ich denke nicht, dass uns damit geholfen wäre.«
» Jetzt stell dich halt nicht so dumm. Ich mein in dem, was du kannst. Beruflich.«
Und endlich, siebzehn Jahre nach meinem Abitur, setzt sich mein Vater mit mir zusammen und bespricht mit mir alles, was meine Karriere und Ziele betrifft. Er arbeitet mit mir an mir, statt mich wie sonst zu kritisieren und mir zu sagen, was ich
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