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Freude am Durchblick

Freude am Durchblick

Titel: Freude am Durchblick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Buechler , Klaus Juergen Becker
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kühl empfunden. Der Fußboden gefiel ihm auch nicht. Sein Blick fiel auf ein optisches Gerät (Spaltlampe) und erstarrte. Auf die Frage, an was ihn das erinnere, sagte er erstaunt und zögerlich: an einen Gynäkologenstuhl. Für einen Mann sehr merkwürdig. Ich deckte das Gerät mit einem Tuch ab, aber ein wenig Unbehagen blieb. Er wünschte sich Vorhänge für den Raum. Der Blick nach draußen in den Garten interessierte ihn nicht. Als ich ihn fragte, was er bezüglich meiner Person empfinde, antwortete er: »sympathisch, aber abwartend«.
    Seine Körpersprache war starr. Ich baute mich vor ihm auf. Er bekam Angst, wollte sich zurückziehen. Schon wenige Zentimeter Abstandsveränderung, in denen ich mich bewegte, lösten sehr unterschiedliche Empfindungen bei ihm aus. Drehte er den Kopf leicht nach links, wollte er mich beim Händedruck am liebsten wegschieben. Drehte er den Kopf nach rechts, geschah das Gegenteil. Seine rechte Hand, die in meiner lag, wollte mich festhalten. Befand sich mein Gesicht etwa 30 Zentimeter vor seinem, hatte er das Gefühl, dass ich Besitz von seinem Kopf ergriff und in seinem Kopf war. Entfernte ich mich nur zwei Zentimeter weg von ihm, erzeugte das in ihm ein Gefühl der Einsamkeit. Je weiter ich mich entfernte, bis zu vier Metern, umso weniger war ich spürbar. Ja, ich störte letztendlich. Ich verließ scheinbar den Raum, war außerhalb seines Gesichtsfeldes. Für 60 Sekunden. Ich ließ Wassili allein, dann fragte ich ihn, wie er sich in dieser Zeit gefühlt hatte. »Viel besser«, sagte er, »als Sie dahinten standen. Aber jetzt« – ich stand zwei Meter von ihm weg – »bin ich froh, dass Sie wieder da sind, kommen Sie doch bitte näher.« In seinem Gesicht war deutliche Entspannung zu sehen.

    Dann arbeitete ich mit dem Mutterauge. Auch hier begann ich mit der Frage, wie sie sich im Raum fühlte. Die Mutter interessierte sich nicht für den Raum. Ihr Blick ging sofort nach draußen, sie erwähnte immer wieder die Farben und wollte am liebsten hinausgehen in den Garten. Als sie das optische Gerät erblickte, erstarrte sie. Auf die Frage, an was sie das erinnerte, kam sehr nachdenklich, aber klar die Antwort: »Am Ende meines Lebens bin ich mit solchen Apparaten am Leben erhalten worden, bis sie nach zwei Tagen abgeschaltet wurden.« Da wäre sie dann gestorben. Der Geist der Mutter hatte ganz klar den Raum betreten. Der Klient sagte alles ganz ruhig.
    Ich sprach mit seiner Mutter und fragte nach ihrem Autounfall. Er bzw. sie brach in Tränen aus, schluchzte heftig und sagte: »Ich hätte das nicht tun sollen. Ich habe meinen Sohn alleingelassen. Aber ich wollte nicht mehr leben. Alles war so mühsam, ich hatte keine Kraft mehr.« Ich fragte nach ihrem Freund. »Mit dem ging es Ihnen doch gut.« Es kam ein vehementes Nein. »Es gab für uns keine Zukunft. Er hatte eine kranke Frau und zwei kleine Kinder. Er konnte sich nicht für mich entscheiden. Ich habe Schluss gemacht. Es tut mir so leid, ich habe meinen Sohn allein zurückgelassen, aber ich war am Ende, fertig mit dem Leben.« Ob sie das Gleiche heute noch einmal tun würde? »Ich weiß nicht, vielleicht.«
    Ich sprach über die heutigen Methoden, sich in solcher Verzweiflung Hilfe zu holen, dass es damals noch nicht üblich war, und für sie als starke Frau, die es gewohnt war, alles allein zu lösen, schon gar nicht. Ich achtete und lobte ihre Stärke und Tatkraft. Ihr Sohn hätte viel von ihr. Auch er stehe vor einer ähnlichen Frage, ob sein Leben noch lohnenswert ist. Ich wüsste, dass die Enttäuschung über die Absage ihres Sohnes, am Geburtstag lieber mit seinen Freunden zusammen zu sein, der letztendliche Auslöser für ihr Verhalten war. Hätte ihr Sohn mit im Auto gesessen, wäre sie nicht gegen den Baum gefahren. Ich bat sie, noch einmal in ihr Auto einzusteigen, dieselbe Straße, derselbe Baum.
    »Denken Sie jetzt an Ihren Sohn, der im Zeltlager auf Sie wartet und sich auf seine Mutter freut. Denken Sie an den Schmerz, der Ihnen 20 Jahre nach Ihrem Tod noch präsent ist. Haben Sie gelernt? Ihr Verhalten damals ist aus Unkenntnis und Einsamkeit heraus entstanden. Niemand verurteilt Sie dafür. Niemand! Und jetzt entscheiden Sie sich: Nehmen Sie wieder den Baum oder fahren Sie weiter zu Ihrem Sohn?«
    Sie antwortete: »Ich bin schon weitergefahren und komme gerade im Zeltlager bei meinem Sohn an, ich umarme ihn und bin so froh, ihn zu haben.« Dann
sprach sie zu ihrem Sohn: »Bitte entschuldige, dass ich so

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