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Friedhof der Kuscheltiere

Friedhof der Kuscheltiere

Titel: Friedhof der Kuscheltiere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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nur wahr«, sagte er. »Opfer langwieriger Krankheiten werden oft genug zu lästigen, unangenehmen Ungeheuern. Die Vorstellung von einem Patienten, der alles mit Engelsgeduld erträgt, ist eine romantische Fiktion. Wenn es so weit ist, daß auf dem Rücken eines bettlägerigen Patienten die ersten Geschwüre erscheinen, dann hat er -- oder sie -- bereits angefangen, zu hauen und zu stechen und sein Elend weiterzugeben. Sie können nichts dafür, aber damit ist den Angehörigen nicht geholfen.«
    Sie sah ihn an, erstaunt -- fast hoffnungsvoll. Dann kehrte das Mißtrauen in ihr Gesicht zurück. »Das willst du mir nur einreden.«
    Er lächelte grimmig. »Soll ich dir die Lehrbücher zeigen? Und was ist mit der Selbstmordstatistik? Möchtest du sie sehen? In Familien, in denen ein Patient mit einer tödlichen Krankheit gepflegt wurde, schnellt die Selbstmordrate in den ersten sechs Monaten nach dem Tod des Patienten bis in die Stratosphäre empor.«
    » Selbstmorde!«
    »Sie schlucken Tabletten, legen sich einen Strick um den Hals oder schießen sich eine Kugel durch den Kopf. Ihr Haß -- ihre Erschöpfung -- ihr Abscheu -- ihr Kummer...« Er zuckte die Achseln und preßte die Fäuste gegeneinander. »Die Überlebenden werden das Gefühl nicht los, einen Mord begangen zu haben. Also machen sie Schluß.«
    Auf Rachels verschwollenem Gesicht spiegelte sich eine Art irrer, verletzter Erleichterung. »Sie wurde immer anspruchsvoller -- und immer widerwärtiger. Manchmal pißte sie absichtlich ins Bett. Meine Mutter fragte, ob sie ihr ins Badezimmer helfen sollte, und später, als sie nicht mehr aufstehen konnte, ob sie die Bettschüssel brauchte. Zelda sagte nein -- und dann pißte sie ins Bett, damit meine Mutter oder meine Mutter und ich die Laken wechseln mußten. Und dann sagte sie, es wäre ein Versehen gewesen, aber man konnte das Lächeln in ihren Augen sehen, Louis. Man konnte es regelrecht sehen. Das Zimmer stank immer nach Pisse und ihren Drogen. Sie hatte Flaschen mit irgendeinem Rauschgift, das so roch wie die Hustentropfen mit Traubenkirschen von Smith Brothers, und dieser Geruch war immer um sie. Manchmal wache ich nachts auf -- selbst jetzt noch wache ich manchmal auf und denke, ich röche die Hustentropfen --, und dann denke ich -- wenn ich noch nicht richtig wach bin --, dann denke ich, ›Ist Zelda noch nicht tot? Immer noch nicht?‹ Ich denke...«
    Rachel mußte Atem schöpfen. Louis ergriff ihre Hand, und sie drückte seine Finger vor Erregung heftig zusammen.
    »Wenn wir ihre Wäsche wechselten, sah man, wie verkrüppelt und verknotet ihr Rücken war. Gegen das Ende zu, Louis, gegen das Ende zu sah es aus, als wäre -- als wäre ihr Hintern irgendwie bis zum Kreuz hochgekrochen.«
    Jetzt lag in Rachels nassen Augen der glasige, verstörte Ausdruck eines Kindes, das sich an einen immer wiederkehrenden, entsetzlich eindringlichen Alptraum erinnert.
    »Und manchmal berührte sie mich mit ihren Händen -- mit ihren Vogelklauen --, und ich hätte manchmal fast aufgeschrien und sie gebeten, es nicht zu tun, und einmal schüttete ich mir ihre Suppe über den Arm, als sie mein Gesicht berührte, und verbrühte mich, und da habe ich wirklich geschrien -- und auch als ich schrie, sah ich das Lächeln in ihren Augen.
    Gegen das Ende zu wirkten die Drogen nicht mehr. Jetzt war sie es, die schrie, und keiner von uns konnte sich daran erinnern, wie sie früher gewesen war, nicht einmal meine Mutter. Sie war einfach dieses stinkende, widerwärtige, schreiende Ding im Hinterzimmer. Unser schmutziges Geheimnis.«
    Rachel schluckte hörbar.
    »Meine Eltern waren nicht da, als sie endlich -- als sie -- als sie...«
    Mit entsetzlicher, qualvoller Anstrengung brachte Rachel das Wort heraus.
    »Als sie starb, waren meine Eltern nicht zu Hause. Sie waren ausgegangen, aber ich war da. Es war Passah, und sie waren zu Bekannten gegangen. Nur für ein paar Minuten. Ich saß in der Küche und las in einer Zeitschrift, das heißt, ich blätterte darin. Ich wartete darauf, daß es Zeit war, ihr noch mehr von ihrer Medizin zu geben, weil sie schrie. Sie hatte fast ununterbrochen geschrien, seit meine Eltern aus dem Haus gegangen waren. Ich konnte nicht lesen, solange sie so schrie. Und dann -- ja, dann passierte es. Auf einmal schrie Zelda nicht mehr. Louis, ich war damals acht, jede Nacht hatte ich Alpträume, ich mußte immer daran denken, daß sie mich haßte, weil mein Rücken gerade war, weil ich nicht ständig Schmerzen hatte,

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