Frostbite
können. Vielleicht hatte er sie gesehen, vielleicht hatte er
auch einfach nur den Hubschrauber entdeckt. Er rannte um das letzte Stück des
Sees herum und blieb zwanzig Meter entfernt stehen. Er wirkte ziemlich
verwirrt. »Chey«, sagte er und schloss die Lücke. Zehn Meter. Acht. »Chey, du
kannst mich nicht verlassen. Das weißt du. Wer zum Teufel sind diese Männer?«
»Bobby«, sagte sie, »darf ich vorstellen …«
»Ich will ihn nicht kennenlernen. Du weißt, was ich will«, sagte
Fenech.
Sie nickte und zog die Pistole.
Powell war sechs Meter entfernt. Sie zielte auf seine Stirn.
»Chey?«, fragte er.
Teil zwei
Auf dem Highway nach Yellowhead
21 Bei
den meisten Menschen verändert sich das Leben nur langsam, viel langsamer als
die Jahreszeiten. Manche werden in das Leben hineingeboren, das sie führen
werden, und sehen sich kaum zu einer Veränderung gezwungen. Für Cheyenne Clark
kam die Veränderung innerhalb von dreißig schrecklichen Sekunden.
Es geschah, als sie noch jünger war. Viel jünger. Es geschah eines
Tages, als sie und ihr Vater im Auto unterwegs waren.
Es war am Ende eines Urlaubs. Sie kamen aus dem Jasper National
Park, wo ihr Vater ihr die Gletscher gezeigt hatte. Sie waren bloß zu
zweit – sie hatte Schulferien, und er wollte demnächst einen neuen Job
antreten. Aber er hatte genug zusammengekratzt für den Ausflug seines Lebens. Die
Mutter konnte sich nicht freinehmen, aber eigentlich wirkte sie eher
erleichtert, als sie das Auto beluden, zum Abschied winkten und aus der
Einfahrt hinausfuhren. Sie schien froh zu sein, das Haus eine Weile für sich zu
haben und sich nicht um die Ehemann und Tochter kümmern zu müssen. Für Chey und ihren Vater war es eine Möglichkeit gewesen,
einander näherzukommen, was zuvor nie so richtig möglich gewesen war. Der
Nationalpark lag einen halben Kontinent von ihrem Zuhause entfernt, und sie
waren die ganze Strecke mit dem Auto gefahren, was bedeutete, dass sie viel
Zeit hatten, sich miteinander zu unterhalten und einen besseren Draht
zueinander zu finden.
In jenem Sommer hatte sie sich erstmals ernsthaft Gedanken über das
Leben als Erwachsene gemacht, und ihr Vater hatte ihr alle albernen Fragen
beantwortet. Er hatte ihr Geschichten über seine eigene Jugend in Amerika
erzählt, über seine Zeit beim Militär, was nach Sommerlager klang, bloß dass es
eine Ausgangssperre gab. Im Gegenzug erzählte sie ihm alles über ihr Leben,
über die Schule und ihre Freunde. Sie erzählte ihm sogar von ihrem ersten Kuss,
den ihr ein schwitzender Jungen aus Quebec gegeben hatte. Er hatte sie Mademoiselle genannt und hinterher damit angegeben, eine Hand unter ihr Hemd geschoben zu haben, obwohl
das glatt gelogen war.
Der Nationalpark hatte wirklich
Spaß gemacht. Sie waren in einem Schneemobil von der Größe eines Busses
gefahren und hatten vor dem Fenster eine Herde Hirsche entdeckt. Sie hatten eine Woche dort verbracht, und obwohl Chey den Ausflug den ganzen Frühling
über gefürchtet hatte, wünschte sie sich nun, da er vorbei war, sie hätten
einen ganzen Monat Zeit gehabt.
Auf der Rückfahrt veränderte sich alles.
Es war der 25. Juli 1994, und Chey
war zwölf Jahre alt. Sie fuhren bereits seit Tagen, und der Wagen lag voller Fastfoodpapier und leerer
Mineralwasserflaschen. So langsam müffelte es. Ihr Vater erlaubte ihr,
eine Ace-of-Base-CD einzulegen, und fällte das Urteil, die Musik sei gar
nicht so übel. Zur Auswahl standen entweder die CDs oder das Radio, und
so tief im Westen gab es nichts als Countrymusic und Radiotalkshows über
Eisfischen und Hockey.
Ihr Vater trug seine rote Meltonjacke, die nach Zigaretten roch,
obwohl er das Rauchen im Vorjahr aufgegeben hatte. Seit drei Tagen hatte er
sich nicht mehr rasiert, und sein Gesicht war voller dunkler Stoppeln. Später
sollte sie sich kaum noch daran erinnern, worüber sie sich an jenem Tag
unterhalten hatten. Es hatte bereits so viele lange, ernste Unterhaltungen
gegeben, und sie hatten noch so viele vor sich – sie waren fast tausend
Kilometer von zu Hause entfernt, und ihnen stand eine tagelange Fahrt bevor.
Den größten Teil dieses Tags waren sie in kameradschaftlichem Schweigen
versunken. Glaubte Chey zumindest. Gelegentlich teilten sie ein kurzes Lachen, gelegentlich wies ihr Vater auf einen
Gänseschwarm oder eine besonders beeindruckende Landschaft hin.
Allerdings war Chey im Nachhinein fest davon überzeugt, dass sie den
Wolf als Erste sah. »Oh, Dad, sieh dir das
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