Frostblüte (German Edition)
Grund dieses Verstehens brauchte ich keine Angst mehr zu haben.
Der wahre Grund, weshalb ich Livia Luca wegschicken ließ, war wesentlich weniger ehrenhaft.
Ich hatte ihn geküsst und er war vor mir zurückgeschreckt. Im Augenblick wollte ich ihn nie wiedersehen.
Trotzdem hatte Livia Recht. Wenn ich bei der Berggarde bleiben wollte, musste ich mich mit Luca auseinandersetzen, und zwar bald. Alles andere war feige und unglaublich albern. Ich hatte mich zur Idiotin gemacht – allerdings legte die Tatsache, dass Luca immer wieder zum Zelt kam, nahe, dass er es mir verziehen hatte. Das Vertrauen und die Freundschaft, die zwischen uns entstanden war, als wir Jagd auf die Räuber gemacht hatten, als er mir die Möglichkeit gegeben hatte, wegzulaufen, und ich ihm stattdessen gefolgt war, konnte ich nicht einfach so wegwerfen. Ich konnte nicht die erste echte Hoffnung zerstören, die ich seit Jahren hatte.
Ich glaubte ihm noch immer.
Ich musste meine trügerischen Gefühle unterdrücken, sie zusammen mit den dunklen Erinnerungen verdrängen, so dass niemand, vor allem Luca nicht, je auf die Idee kam, dass sie existierten.
Als das Singen draußen begann, bemerkte ich den unschlüssigen, sehnsüchtigen Ausdruck auf Livias Gesicht. »Wenn du willst, geh ruhig. Ich komme schon klar«, sagte ich.
Sie sah mich abschätzend an, die schwarzen Schatten des Lampenscheins verstärkten den Ausdruck noch. »Warum gehen wir nicht gemeinsam zu der Versammlung? Du weißt, dass du dort willkommen bist.«
»Mir ist nicht nach Singen. Und ich werde auch nicht davonlaufen, wenn du mich allein lässt, mach dir also keine Sorgen.«
Sie sah schuldbewusst weg und ich wusste, dass ich den Nagel auf den Kopf getroffen hatte. Luca musste ihr das Versprechen abgenommen haben, mich im Auge zu behalten.
»Ich werde zu Lucas Zelt gehen und dort auf ihn warten. Du hast Recht. Ich muss es hinter mich bringen«, sagte ich und erhob mich. »Danke, dass du so lieb zu mir warst.«
Sie stand ebenfalls auf, legte mir beide Hände auf die Schultern und drückte mir einen mütterlichen Kuss auf die Wange. Ich musste mich anstrengen, nicht zurückzuzucken, allerdings weniger als zuvor. Allmählich gewöhnte ich mich an Livia.
»Du brauchst mir nicht zu danken«, sagte Livia. »Und jetzt ab mit dir.«
Ich zwang mich zu einem Lächeln, als sie die Lampe ausblies. Dann verließen wir beide das Zelt. Sie lief zum Versammlungsplatz, zu dem flackernden Licht und den Stimmen, die ein fröhliches Lied über ein junges Mädchen sangen, das Unmögliches von seinem Geliebten verlangt. Ein Teil von mir wollte seine Meinung ändern, Livia begleiten und sich in diese Wärme und Fröhlichkeit hüllen. Doch ich hatte weder Wärme noch Fröhlichkeit anzubieten. Ich gehörte nicht dorthin.
Noch bevor ich den ersten Schritt zu Lucas Zelt machte, spürte ich, wie sich die feinen Härchen in meinem Nacken aufstellten. Ich wurde beobachtet. Ich drehte mich um und suchte den Hang ab, bis ich eine dunkle Gestalt sah. Auf einem Felsen, der zwischen den Bäumen aufragte, stand ein Mann. Der unverwechselbare quadratische Umriss seines Rückens und seiner Schultern war deutlich zu erkennen.
Arian.
Ich starrte auf seinen Schatten am Nachthimmel. Er hielt an seiner Einsamkeit und Verschlossenheit fest. Wie ich entschied er sich dafür, dem flackernden Feuer der Urmutter und dem frohen Geplapper der Stimmen dort fernzubleiben. Trotzdem hielt ihn wie mich etwas davon ab, fortzugehen. Irgendetwas zwang ihn, sich am Rande des Lebens mit der Berggarde herumzutreiben, niemals ganz Teil davon zu werden, aber sich auch niemals zu weit zu entfernen.
Luca band Arian an diesen Ort und diese Menschen, genauso wie er mich an sie band.
Ich haderte mit mir, als ich mich vom Lager abwandte und auf den Hang stieg.
Nur weil du dir einbildest ihn zu verstehen, bedeutet das noch lange nicht, dass es ihm mit dir genauso geht.
Du weißt, dass er gefährlich ist, du weißt, dass er handelt, ohne nachzudenken. Er hat dich mittlerweile dreimal bedroht.
Er will eindeutig allein sein. Was glaubst du damit zu erreichen?
Was wirst du überhaupt zu ihm sagen?
Mein gesunder Menschenverstand tobte. Ich ging weiter. Sobald ich den Wald betrat, verlor ich Arian aus den Augen, aber ich wusste genau, wohin ich musste. Als würde mich die absolute Einsamkeit seiner selbst auferlegten Isolation zu ihm hinziehen: zu einem verbannten Wolf, der in der Nacht heulte.
Sobald ich zwischen den Bäumen, die die
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