Frucht der Sünde
wurde irgendwie von ihr erwartet. Normalerweise, mmh, liest sie gern. Oder geht spazieren. Sie interessiert sich nämlich unheimlich für Tiere und, mmh, Pflanzen. Solche Sachen eben.»
«Und was, glaubst du, ist ihr passiert?»
«Also, wenn man Colette kennt, ist es ziemlich klar, dass sie mit einem Freund weg ist, weil sie von dieser Partyhektik genug hatte. Vielleicht sind sie nach Hereford, einen Kakao trinken. Und dann ist sie über Nacht geblieben.»
«Oh.» Die Reporterin stellte ihr Gerät ab. «Also. Danke, Jane.» Dann drehte sie sich um und ging zu dem Radio-Auto. «Verdammt vielen Dank», hörte Jane sie murmeln.
«Sie haben gesagt, ich könnte noch von Glück reden», sagte Lol. «Es hätte genauso gut eine Anklage wegen Vergewaltigung dabei herauskommen können.»
«Es war auch Vergewaltigung, oder?», fragte Merrily. «Und wie in drei Teufels Namen hat er es geschafft, dass diese Kath nichts gesagt hat, wo es doch um ihre Freundin ging?»
Lol schwieg einen Moment. «Ich weiß nicht. Ich kann mir vorstellen, dass er sie ein bisschen geprügelt und ihr dann Geld gegeben hat. Karl weiß genau, was er tut, selbst wenn er komplett breit ist.»
«Also haben Sie allein auf der Anklagebank gesessen. Was haben Sie bekommen?»
«Bewährung.» Er starrte auf den Tisch.
Merrily sah, dass er gegen die Tränen kämpfte. Fast achtzehn Jahre waren seitdem vergangen, und immer noch fühlte er sich so verletzt wie am ersten Tag. Sollte sie ihm das abnehmen? Andererseits war das mutmaßliche Opfer damals nicht wesentlich jünger gewesen als der mutmaßliche Täter, dafür aber vermutlich wesentlich reifer.
«Ich meine, ich
habe
es ja getan», sagte Lol. «Ich habe mich schuldig bekannt. Ich hatte Sex mit einer Minderjährigen. Das genügte schon. In den Augen Gottes … wie sie es ausdrücken.»
«Wie wer es ausdrückt?»
«Meine Eltern. Also, inzwischen leben sie nicht mehr. Das haben sie damals gesagt. Beziehungsweise, sie haben es nicht gesagt, weil sie alle beide nie mehr mit mir gesprochen haben. Kein einziges Wort. Nur ihr Pfarrer. Er hat für sie gesprochen. Und für Gott. Wie ihr Geistliche es eben macht.»
«Welche Religionsgemeinschaft war das?»
«Ich weiß nicht mehr. Sie hatten eine rosa gestrichene Kirche mit Riesenplakaten an den Außenwänden.»
Merrily lächelte.
«Sie sind erst im mittleren Alter religiös geworden. Ab da zählte nichts anderes mehr. Ich habe mich bei ihnen wie ein Untermieter gefühlt. Meine alten Kinderfotos haben sie alle weggeräumt. Stattdessen standen überall Jesusbilder rum.»
«Sind Sie Einzelkind?»
Er nickte. «Aber eigentlich haben sie mich ab dem Zeitpunkt nicht mehr als ihren Sohn angesehen, an dem ich nicht in ihre Kirche eintreten wollte. Nachdem sie mich rausgeworfen hatten, haben sie mein Zimmer …
reinigen
lassen.»
Merrily fragte: «Weiß Lucy Devenish das alles?»
«Manches. Danach bin ich ein bisschen irre geworden.»
Sich auf die Bühne zu stellen, fiel Lol nicht gerade leicht, nachdem sein letzter öffentlicher Auftritt vor Gericht stattgefunden hatte. Und nachdem ihn seine Eltern rausgeworfen hatten, weil sie ihn für eine Ausgeburt des Satans hielten, und er in Swindon in einer winzigen Bude über einem Imbiss gelandet war. Seine Musik war in einer Zeitschleife stecken geblieben, und ständig dachte er über Nick Drake nach, der Angst vor Live-Auftritten gehabt und kein Album mehr produziert hatte, sodass seine Platten sich nicht verkauften und er in eine tiefe Depression rutschte – mit dem ‹Blackeyed Dog› vor der Tür, genau wie in den dreißiger Jahren Robert Johnson glaubte, ihm sei der ‹Hellhound› auf den Fersen. Lol kamvöllig aus der Spur, warf Pillen ein und dachte, dass in der Musik irgendein tödlicher Virus stecke, der von Johnson an Drake und vielleicht noch an ein paar andere Leute weitergegeben wurde, und jetzt sei eben er dran.
Die Band löste sich auf, wie das so ist. Lol vegetierte in seinem Zimmer, und eines Tages kam Dennis Clarke vorbei, der Schlagzeuger.
Der wohlsituierte Vorstadt-Dennis war entsetzt darüber, wie Lol lebte, was er sich alles reinzog und dass er aussah wie der Tod auf Latschen. Und darüber, dass Lols aktuelle Freundin, die ihn in einer Bar angesprochen hatte, alt genug war, um seine Mutter zu sein, ihm sein Geld aus der Tasche zog und ihn mit Drogen versorgte. Lol war krank, und diese Frau machte alles nur noch schlimmer.
Merrily erstaunte das alles nicht.
«Sie hatten Angst
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