Frucht der Sünde
wenn Karl seine reichlich eingeschränkten Überredungskünste verbraucht hätte, wenn ihm klar würde, dass er nichts mehr machen konnte, nichts mehr zu gewinnen oder zu verlieren hatte, dann würde er destruktiv werden. Das würde sein Stolz von ihm verlangen.
Lol ging weiter und fühlte sich immer deprimierter. All diese Blüten, die eine reiche Ernte verhießen. Die Ernte des vergangenen Jahres hatte nur aus Holzscheiten von toten und sterbenden Bäumen bestanden. Letzten Winter hatten Alison und er eine riesige Fuhre Apfelholzscheite von den Powells gekauft. Wenn man die Tür des Holzofens offen ließ, während man dieses Holz verbrannte, duftete der ganze Raum nach Apfelholz. Mit diesem Geruch wurden auch Weihnachtskarten parfümiert.
Lol hatte zu Weihnachten mit Alison auf dem Teppich vor dem Ofen schlafen wollen, aber dieser Wunsch war nie wahr geworden.
Wie sehr sie sich verändert hatte. Wie edel sie in ihrem dunkelblauen Reitzeug aussah, wie perfekt. Edel, aber nicht sexy. Dafür wirkte ihre Erscheinung zu militärisch.
Als er sich umdrehte, war das Cottage hinter den dichten weißen Blütenschleiern verschwunden. Bald war er in der Nähe des sogenannten Apfelbaum-Mannes, bei dem er und Colette Jane gefunden hatten. Er hatte eine Art Mutprobe vor. Er würde allein bis zu diesem Baum gehen, die knorrige Rinde des Alten berühren, und dann würde er sich umdrehen und ins Cottage zurückkehren.
Inzwischen war eine dichte weiße Wolkenschicht aufgezogen. An manchen Stellen kam die Sonne durch und äderte den Himmel wie Schimmelkäse. Die Bäume standen hier dichter. Es erschien Lol, als stünde er mitten in einer Blütenexplosion. In jeder Richtung sah es gleich aus, und obwohl kein Wind wehte, war es, als ob all das Weiß um ihn herumwirbelte. Er fühlte sich orientierungslos, doch er wollte nicht umkehren. Er kämpfte gegen sich selbst an. Er bewegte sich durch einen warmen, windstillen Schneesturm. Als er den Blick hob, vermischten sich der weiße Himmel und die Blüten miteinander, und es kam ihm vor, als werde er in einen dichten weißen Schleier gehüllt. Wie in ein Leichentuch, grässlich. Also schaute er lieber auf den Boden.
Und da sah er sie. Das Mädchen. Es lag mitten auf dem Weg. Ihr Gesicht war von Apfelblüten umrahmt wie von weißer Spitze.
17 Die Blendung
«Oh, hallo», sagte Colette ohne große Begeisterung. «Wollen Sie zu meinem Vater?»
Merrily wurde das Herz schwer. Dieses Mädchen sollte nicht hier sein. Sie sollte woanders sein – egal wo –, und zwar zusammen mit Jane.
«Er ist nämlich nicht da», sagte Colette.
Sie lehnte mit verschränkten Armen im Türrahmen der
Country Kitchen
. Der Eingang war breit, offenbar war hier früher ein Scheunentor gewesen. Colette blockierte also nicht den Weg, doch einen bestimmten Kundentyp würde ihre Anwesenheit trotzdem stören. Und einen anderen Kundentyp würde sie vermutlich anziehen.
«Colette, wo ist Jane?»
Sie zuckte mit den Achseln. «Sollte ich das wissen?»
«Ja, ich habe gehofft, du wüsstest es.»
«Tja, tue ich aber nicht», sagte Colette. «Sorry.»
Caroline Cassidy hatte Merrily durchs Fenster gesehen und kam zur Tür.
«Ich würde Sie doch nie anlügen, Frau Pfarrer», sagte Colette mit einem süßen Lächeln, während Caroline aus der Tür trat. Der Blick, den Colette ihr zuwarf, schien zu bedeuten: jedenfalls nicht so, wie ich
sie
anlüge.
«Merrily!» Caroline trug eine Art Melkmädchenkleid aus Leinen mit einer Unterziehbluse aus kariertem Baumwollstoff. So liefen wirklich nur hundertprozentige Städterinnen herum. «Wir warten schon so lange darauf, dass Sie einmal vorbeikommen.»
«Hallo, Caroline.»
«Aber ich habe zu Terrence gesagt: ‹Setz die Gute bloß nicht unter Druck, sie ist viel zu beschäftigt, um sich über unser kleinesFestival Gedanken zu machen.›» Dazu warf sie Merrily ein mitfühlendes Lächeln zu.
«Ich habe nur gerade Ihre Tochter gefragt, ob sie zufällig Jane gesehen hat.»
Carolines Miene wurde streng. «Colette?»
«Nein, hab ich nicht.» Colette richtete sich auf. «Ich hab sie wirklich nicht gesehen, o. k. ? Was soll das überhaupt? Nur weil wir
einmal
zusammen weg waren und uns ein bisschen betrunken haben, denkt jeder, wir würden ständig im Pub rumhängen. Ich habe Jane gestern Abend kurz getroffen und seitdem nicht mehr gesehen, alles klar?»
«Colette, zwei Kaffee. Los.» Caroline schob ihre Tochter durch die Tür ins Restaurant und wandte sich dann wieder
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