Fuer den Rest des Lebens
erschöpft, die Bilder in der Hand, als wäre er gezwungen, für sie die Last der Jahre zu tragen, die zwischen den beiden Aufnahmen liegen, die schwerwiegende Enttäuschung, und inzwischen füllt sich der Tisch mit Gläsern und Tellern, eine Schale mit violetten Weintrauben, ein Schüsselchen mit Erdnüssen und Mandeln und ein Krug Wasser mit Eiswürfeln, aber er ist unfähig, sich von den Bildern zu lösen, wie Beweisstücke vor Gericht liegen sie vor ihm, erzählen eine abgeschlossene Geschichte, so erdrückend, dass man offenbar nichts weiter zur Überführung der Angeklagten braucht. Ist das der Grund dafür, dass sie nichts sagt, sie hantiert schweigend in der Küche, bringt eine Käseplatte aus dem Kühlschrank, schneidet Brot, als wäre sie auf seinen Besuch vorbereitet, und nicht nur auf seinen, sondern auf den Besuch weiterer Gäste am Ende der dreißig Trauertage. Wo sind sie denn? Warum kommen sie nicht? Er hofft, sie würde schon aufhören und sich ihm gegenüber in den geblümten Sessel setzen, damit er ihr die einzige Frage stellen könnte, die sich angesichts der beiden Paare anbietet, die ihm von den Fotos entgegenblicken, wie ist es passiert, das heißt, warum? Wie haben Sie sich verpasst, wenn Sie in Ihrer Jugend schon zusammen waren? Warum haben Sie nicht geheiratet und Kinder bekommen und eine Familie gegründet? Wie kommt es, dass Sie hier allein in diesem Puppenhaus gewohnt haben, während er mit einer anderen Frau gelebt hat, beziehungsweise mit einer anderen Frau gestorben ist, und trotzdem habe ich Sie dort gesehen, am letzten Tag seines Lebens.
Als sie sich endlich in den Sessel setzt und die hochhackigen engen Schuhe auszieht, bemerkt er zu seinem Erstaunen, dass ihre Nägel schwarz lackiert sind, noch nie hat er eine solche Farbe bei einer erwachsenen Frau gesehen, und er fragt sich, ob das ihre Art zu trauern ist, er würde gern zu ihren Füßen sitzen und mit der Zunge die schwarze Farbe von ihren Zehen lecken, eigentlich hat er weder Lust zu reden noch zuzuhören, er sehnt sich danach, dass sie ihm ein paar wenige, bereits bekannte Worte ins Ohr flüstert, morgen wirst du dich besser fühlen, und eigentlich sind es die einzigen Worte, die nicht seinen Widerstand wecken, die keinen unerträglichen Schmerz in ihm aufsteigen lassen, wie das, was sie gleich sagen wird, während sie für beide den Wein eingießt und dann das Glas mit einem traurigen Lächeln hebt und einen Schluck nimmt, ihre Haut rötet sich, als würde der Wein sie von innen färben, und ein paar Schweißtropfen treten auf ihre Stirn, und sie streckt die Hand aus und greift nach den beiden Fotos, betrachtet sie ernst, als habe sie sie lange nicht mehr gesehen. Es war seine Idee, sagt sie und lächelt, trotz der Tragik, dass wir uns in der gleichen Haltung fotografieren lassen, er liebte alle möglichen privaten Witzchen dieser Art, erklärt sie, als versuche sie, die Bitte ihres seltsamen Gastes zu erfüllen, und Avner hört sich fragen, warum sind Sie nicht zusammengeblieben?
Wieso interessiert Sie das eigentlich?, entgegnet sie, aber ihre Stimme klingt kein bisschen aggressiv, nur erstaunt, und er versucht, in leichtem Ton zu antworten, ich verstehe es selbst nicht, aber seit ich Sie beide dort gesehen habe, muss ich ständig an Sie denken, Ihre Ausstrahlung hat mich begleitet, und zu seiner Erleichterung gibt sie sich damit zufrieden, ich habe ihn verlassen, sagt sie, sie spricht verhalten und kontrolliert, wie bei der Rede, die sie vor einigen Stunden gehalten hat, wir haben uns an der Universität kennengelernt, wir waren ein paar Jahre zusammen, Rafael wollte heiraten, aber ich war noch nicht reif dazu, die Zukunft, die er mir bot, kam mir zu bürgerlich vor, sie füllt sich erneut das Glas mit dem dunklen Wein und legt die Beine übereinander. Ich habe ihn wegen irgendeines Musikers verlassen, sagt sie kurz angebunden, als handle es sich um eine überflüssige Rechtfertigung, schließlich haben sie beide schon gelernt, dass die Dinge geschehen, auch ohne dass sie von Worten begleitet werden, ich habe ein paar Jahre in New York gelebt, und als ich nach Israel zurückkam, war er schon mit Elischewa verheiratet und hatte zwei Kinder, alles war verloren, für mich jedenfalls, fasst sie zusammen, und Avner hört ihr mit offenem Mund zu, warum verloren?, fragt er, als wäre alles noch zu ändern, Menschen lösen ihre Familien auf, sie korrigieren Fehler oder machen neue, das passiert ständig, allerdings nicht bei mir,
Weitere Kostenlose Bücher