Für immer am Meer - Henry, V: Für immer am Meer
aber er hatte sich nicht getraut, sie anzusprechen. Die drei hatten vor dem Tiefkühlregal gestanden, sie hatte den Kindern erlaubt, jeweils eine Eissorte auszusuchen, und er hatte das Idyll nicht stören wollen. Dann hatte sie aufgeblickt und ihn mit seinem Einkaufskorb am Ende der Schlange an der Kasse stehen sehen. Sie hatte zweimal langsam geblinzelt, hatte zögernd gelächelt und sich dann abgewandt. Er hatte verstanden. Sie hatte ihn erkannt, wollte aber nichts mit ihm zu tun haben. Er war sich schmutzig vorgekommen. Und er hatte sich geschämt.
Er hätte nie mit ihr ins Bett gehen dürfen. Er hätte mit ihr reden, sie fragen sollen, was ihr auf der Seele lag, denn er hatte gespürt, dass sie Probleme hatte. Aber sie waren beide von ihren Trieben überwältigt worden. Er erinnerte sich noch, dass sie überhaupt nicht protestiert hatte. Sie hatte die Arme um seinen Hals geschlungen und sich an ihn gedrückt. Es hatte keine widersprüchlichen Signale gegeben.
Und doch hatte er hinterher gewusst, dass es falsch gewesen war. Selbst jetzt machte er sich noch Vorwürfe. Seitdem hatte Liam kaum getrunken. Er konnte diese Frau einfach nicht vergessen, die glasigen Puppenaugen verfolgten ihn. Was hatte diese Frau bloß so unglücklich gemacht?
Es war eine verrückte Nacht gewesen. Und nicht nur für ihn. Aber er hatte ein ganz anderes Problem, erinnerte er sich, als er sich dem Hotel näherte. Verdammte Jenna! Was hatte sie sich eigentlich dabei gedacht? Er würde ihr den Hals umdrehen, verflucht noch mal.
Dan fragte sich, wo zum Teufel Liam abgeblieben war. Sie wurden jeden Augenblick im Festsaal erwartet, wo die Trauung stattfinden sollte, um die Formalitäten zu erledigen. Wenn er nicht bald auftauchte, würden sie zu spät kommen, und er wollte nicht, dass irgendetwas schieflief.
Es sollte ein perfekter Tag werden. Nicht seinetwegen – ihm war das alles nicht so wichtig, ihm hätte es gereicht, mit ein paar Freunden zum Standesamt zu gehen –, aber für Kirsty, die seit Monaten mit nichts anderem beschäftigt war als mit den Vorbereitungen für dieses Ereignis. Er wusste, wie wichtig ihr jedes Detail war, vom frischen Granatapfelsaft und dem Prosecco bis hin zu den Miniwindbeuteln mit weißer Schokolade. Dan wollte nicht, dass irgendetwas Kirstys Freude trübte, und es ärgerte ihn, dass Liam ausgerechnet jetzt verschwunden war. Er hätte gern gewusst, wer ihn da angerufen hatte und was so wichtig gewesen war. Allmählich wurde er nervös. Es war fast eins. Liam hätte längst zurück sein müssen. Was wäre, wenn …?
Blödsinn, sagte er sich. Jenna würde schon den Mund halten. Trotzdem bekam er feuchte Hände, und in seinem Hals bildete sich ein Kloß. Seit der Junggesellenparty hatte er Jenna nicht mehr gesehen. Sie hatte Gott sei Dank nicht versucht, zu ihm Kontakt aufzunehmen. Anfangs hatte er befürchtet, dass sie völlig durchdrehen und ihn mit noch mehr SMS und Anrufen bombardieren würde als bisher. Aber zum Glück war sie sehr diskret gewesen.
Warum zum Teufel hatte er das Ganze überhaupt getan? Wenn er zu lange darüber nachdachte, wurde ihm regelrecht übel. Jenna hatte es ihm so leicht gemacht! Hatte mit ihm geknutscht, ihm alles Mögliche ins Ohr geflüstert, sich ihm an den Hals geworfen. »Nur einmal, Dan«, hatte sie geflötet. »Ich weiß doch, dass du es willst. Und besser jetzt als später, wenn du ein verheirateter Mann bist. Bring’s hinter dich.« Und in seinem Suff hatte er sich darauf eingelassen.
Er hatte sich immer gut mit Jenna verstanden, und konnte nicht leugnen, dass er sie attraktiv fand, obwohl sie so ganz anders war als Kirsty. Vielleicht hatte gerade das ihn angezogen? Eine primitive Neugier, eine Art Torschlusspanik, noch einmal wissen zu wollen, was der Markt zu bieten hatte, sich zu vergewissern, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte? Er konnte sich noch nicht mal an viel erinnern. Er entsann sich vage, dass er mit ihr aus dem »Ship« gewankt und dann den Hügel hoch zum Campingplatz getorkelt war. Erst als er am nächsten Morgen aufwachte und sie neben ihm gelegen hatte, war ihm klar geworden, was er getan hatte. Er hatte zugesehen, dass er sie möglichst schnell loswurde, aber er hatte noch stundenlang ihren Geruch an sich gehabt, obwohl er sich unter der Dusche geschrubbt hatte wie ein Blöder.
Natürlich war das alles seine Schuld. Jenna hatte sich an ihn rangemacht, aber er hätte Manns genug sein müssen, ihr aus dem Weg zu gehen.
Denk einfach
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