Für immer, Deine Celia: Roman (German Edition)
ihrer typischen praktischen Art beschloss Bud, mit dem Dachboden zu beginnen und sich von dort aus nach unten vorzuarbeiten. »Wie viel ist noch da oben?«
»Keine Ahnung.«
»Was soll das heißen? Hast du nicht nachgesehen? Mein Gott, was hast du denn die ganze Zeit gemacht?«
»Nachgedacht«, erwiderte Sarah schamlos.
Der Dachboden war nur über eine Luke mit einer wackeligen, einklappbaren Leiter zu erreichen. Als sich ihre Augen an das Zwielicht gewöhnt hatten, begann Bud zu begreifen, welche Herkulestat sie erwartete. Hier standen zahllose Kartons und mindestens ein halbes Dutzend, bis zum Platzen gefüllte und mit Riemen gesicherte, uralte Koffer. Alles war von einer Staubschicht überzogen. Was soll das denn alles? , dachte Bud, die im Hier und Jetzt lebte, Vergangenes entschlossen hinter sich ließ und stolz darauf war. Briefe waren für ihre Generation praktisch nicht existent. Sie kannten unendlich weniger aufwendige und schnellere Kommunikationsmittel. Und was Tagebücher betraf … Wer hatte dazu heutzutage noch Zeit?
Aber all das Papier! Es kam ihr so vor, als habe ihre Großmutter nur gelebt, um zu schreiben. Dennoch hatte sie eine gute Ehe geführt, drei Kinder aufgezogen, sechs Enkelkinder betreut und die Freundschaft mit Bet und Priscilla gepflegt. Sie hatte angesichts all diesen Mülls zwar Gewissensbisse gehabt, aber andere Prioritäten gesetzt. »Kaum dass ich die Augen aufschlage«, hatte sie Bud einmal anvertraut, »denke ich nur noch daran, an meinen Schreibtisch zu kommen.« Aber selbst wenn sie bereit gewesen wäre, ihre Arbeit zu vernachlässigen, auf diese Hühnerleiter zu steigen wäre sie außerstande gewesen. Also hatte sie es auf die lange Bank geschoben, bis eines Tages der Tod angeklopft hatte.
Bud blies den Staub von einer Schachtel und klappte die schmutzigen Papplaschen zurück. Der Inhalt bestand aus einer Unmenge alter Briefe und Tagebücher. Sie schlug wahllos ein Tagebuch auf. Mit den Kindern Ochs am Berg gespielt , las sie in der vertrauten Handschrift als Eintrag am 16. September 1961. Bud lächelte. Das war viele Jahre, bevor Celia Großmutter geworden war, gewesen. Ein Schwarz-Weiß-Foto steckte ebenfalls in der Schachtel. Es war das förmliche Porträt einer jungen Frau mit einem hübschen, mädchenhaft schmalen Gesicht, das an Miranda erinnerte. Sie trug das Haar zu einem Knoten im Nacken aufgesteckt, ein einfaches schwarzes Kleid und Perlohrringe und starrte leicht trotzig in die Kamera, als sei sie es nicht gewohnt, fotografiert zu werden.
»Das muss deine Urgroßmutter Helen sein«, bemerkte Sarah, die Bud über die Schulter sah.
Helen war gestorben, bevor auch nur eines ihrer Enkel- und Urenkelkinder geboren worden war. Dennoch waren sie alle durch Celias Gutenachtgeschichten mit ihr vertraut. Far Point war auf diese Weise für sie lebendig geworden: Jenes schöne weiße Haus am Meer, wo der Wind in den Kiefern rauschte und die See die ganze Nacht über an den Strand brandete. »Gab es dort Gespenster?«, hatte Bud einmal gefragt, und Celia hatte speziell für sie eine Geschichte über ein mageres, kleines Mädchen namens Naomi mit hüftlangem schwarzem Haar erfunden, das auf der Suche nach Kindern, die Trost brauchten, durch die zugigen Korridore gewandert war. Die Person der Urgroßmutter Helen allerdings war diffus und schattenhaft geblieben. Was seltsam erschien, denn jeder und jede einzelne Hausangestellte wurde mit großer Genauigkeit beschrieben. Da war eine strenge Köchin mit Damenbart gewesen, wie Bud sich erinnerte; ein Hausmädchen mit romantischen Träumen und ein Gärtner, der den Klang der eigenen Stimme liebte. Der Star allerdings war die Haushälterin, eine wunderbare Frau, die – in der Lieblingsgeschichte – einen siegreichen Kampf mit einem Hund um eine Lammkeule ausgefochten hatte.
Versteckt zwischen all dem Papier lagen seltsame Gegenstände: ein schmutziges, altes Taschentuch mit blassbraunen Flecken; ein mit Blumen bemaltes Holzgefäß; eine einzelne, gequetschte und geknickte, filterlose Zigarette und seltsame rote und weiße Quasten an Seidenbändern, deren Zweck unerfindlich blieb. Außerdem waren da Theaterprogramme und Speisekarten aus Restaurants, Schulberichte und sogar eine weiße Serviette aus Leinen mit aufgesticktem Wappen. Es war kaum zu übersehen, dass das Papier in sämtlichen Schachteln vergilbt und brüchig geworden und die Tinte darauf verblasst war. Einiges war sogar von Schimmel befallen und von Mäusen
Weitere Kostenlose Bücher