Für immer in Honig
ein Orakel benahm und sich am Ende ganz in Schweigen hüllte, sich vor allem jeden Besuch verbat.
War Jenny dann nicht irgendwann trotzdem hingefahren?
Kam sie nicht mit der Geschichte zurück, das Klein-Büchlein, dessen letztes, philosophisch-politisch-metaphysisches Drittel ihnen damals so was wie die Bibel gewesen war, die sie lasen wie eine Mischung aus Lehrbuch der Dialektik und Benjamins geschichtsphilosophischen Thesen, dieses Büchlein also: sei selber bloß ein ausgelagerter Teil eines größeren Werks gewesen, an dem Leviné angeblich saß. Darin sollte die gesamte mathematische Moderne einer Sichtung und am Ende überraschend optimistischen Prüfung unterworfen werden. Zwanzig Porträts von der Art des Klein-Stücks, zwanzig Aufforderungen, weiterzumachen, die Vernunft nicht zu begraben, sondern über sich hinauszutreiben, auf dem bedingten Stand des … Ist ja auch egal.
Bloß warum war uns das eigentlich so wichtig, der ganze philosophische Qualster, diese euphorische Heilserwartung, die sich daraus ergab, daß …
Wie hatte Jenny gesagt? »Das Geile ist doch, daß man einerseits dringend dauernd alles durchdenken möchte, das allerschärfste präziseste Denken handhaben lernen, wenn man jung ist wie wir, aber daß man genauso dringend auch was tun will, und daß sie einem in der Schule und überall ständig erzählen, daß man sich da entscheiden muß, an dieser Stelle. Daß das auseinanderfällt, Denken und Machen. Leviné aber sagt, daß man gar nicht denken kann, ohne zu handeln, daß das, was Menschen Handeln nennen, wiederum immer eine Art Denken braucht als Begleitung, daß Wesen, die nicht denken können, auch nicht handeln, sondern nur passieren, weil Handlung heißt, daß ein Ereignis etwas bedeutet , weil jeder echte Akt auch eine sprachliche … ich weiß auch nicht …«
»… Tatsache ist«, hatte Rölfchen gelacht.
Warum war uns das so groß und so heiter vorgekommen? Warum hatten wir uns gekugelt und gekringelt und daraus vorgelesen, und was haben wir … was haben wir gemacht damit?
Was wir gedacht haben, das könnte ich ja noch rekonstruieren, aber wie und wo und wieso hat … hat das … Was störte mich denn da dauernd so, was waren denn das immer für drei Pünktchen zwischen meinen Sätzen, meinen stotternden Denkversuchen um …
Mike Pattons Stimme in der halbleeren Wohnung:
Your menstruating heart
It ain’t bleeding enough for two
It’s a midlife crisis …
War es meine unheimliche innere Stille, in die Patton reinschrie, die Lautlosigkeit einer verwinkelt aufgeteilten Höhle, in der an jeder Türklinke eine Mülltüte hing, weil ich, weil Philip so schrecklich faul geworden war, seitdem es den Treff nicht mehr gab?
War es der Horror der Lage, die Angst vor den ungeöffneten Briefumschlägen auf dem Küchentisch, viele davon immer noch an Frau Flasch adressiert, aber ein paar, seit er das Türschild geändert und sich im Einwohnermeldeamt endlich als ansässig bekanntgegeben hatte, auch an ihn, darunter etwas von der städtischen Müllsowieso, was von der GEZ , und Ramsch, und irgendwelche Anwälte, ach genau, sogar Polizei bzw. Gericht … wieso … was konnte denn … War es vielleicht das Hirn selber, löste es sich endlich auf?
Leere Whisky- und Wodkaflaschen standen Kondolenzspalier an beiden Wänden, neben dem Menschen, der versonnen kategorientheoretische Schemata und kleine Männchen auf Platten-Innenhüllen schmierte … Was war das, was ihn verwirrte?
Es war das Telefon.
Das klingelte nämlich, seit gut fünf Minuten schon.
Abgelenkt vom eigenen Atem, von Vergangenheitsgerüchen, die meinen Kopf einzunebeln begonnen hatten, abgelenkt auch davon, daß es mich überhaupt noch gab, obwohl ich mich längst totgesoffen hatte, ging ich zum Plattenspieler und nahm den Kopf des Tonarms von der Rille, als eben das nächste Stück, » RV «, anfangen wollte.
Dann gab ich mir die größte Mühe, den Apparat zu suchen, und fragte mich, ob ich mit dem Ding eigentlich überhaupt schon mal telefoniert hatte. Ja, doch, mit Andy, zweimal, mit Teufel, mit … mit Stuttgart? Der Anschluß war auf mich umgemeldet, soviel erinnerte ich, aber ob ich Telefonrechnungen bezahlte, wie lange ich hier denn schon lebte, warum sich das alles niemals änderte, im Leben, diese ewige Sucherei in den Wohnungen: Früher, als ich noch lange Haare hatte, war’s immer der Haargummi, der irgendwie abhanden kam, seit Jahren der Ring, weil ich ihn vor dem Schlafengehen ausziehe und
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