Für immer in Honig
gegangen war, bei allem, was er machte, länger, als er bisher hatte wissen wollen.
Ich bin? Todgeweiht.
Ich will? Endlich vom Tod richtig eingeweiht werden, bis in die Eingeweide, die Eigenweite.
Philip stand auf und schüttelte den Kopf. Dann ging er zum alten DUAL -Plattenspieler, aus dem Flasch-Nachlaß, der auf dem Ersatzteilmarkt wahrscheinlich ein paar Hektar bestes Waldland wert war, nahm die Exodus vom Teller, schob sie in die Papierhülle, diese in den Karton, verstaute den im Plattenkoffer und blätterte danach mit Daumen und Zeigefinger in den übrigen alten Platten. Wieso waren die so wichtig? Weiß doch jeder: Weil man hin und wieder eine Doris … falsch: eine Dosis Überwundenes braucht, wie bei einer Nachimpfung. Sprache von gestern, Lärmspuren, die einen geprägt haben, an denen man hängt, die man libidinös besetzt hat. Philip dachte daran, wie man sich in neuen Gemeinschaften orientiert, wenn man vorankommen will: Der Kleinstädter, der in die Großstadt zieht, ist ja erst mal entsetzt über die Verkommenheit da, all die Leute mit Hornhaut, die diversen Unfähigkeiten zum Mitfühlen und Nachvollziehen, die zu Fähig- und Fertigkeiten geworden sind, daß man unter den Schülern da nicht von Mädchen oder Mädels redet, sondern von »Tussen« und so. Andererseits ist jede derartige Verkommenheit der Sprache auch wieder ein Fortschritt im Sinne des verbesserten Realitätsempfindens, soweit die Verhältnisse nämlich schließlich Schritt für Schritt selber verkommen; man wäre töricht, wenn man sich’s verbieten würde, so zu reden, wie die Dinge liegen. Denn die Mädchen in der Stadt sind leider wirklich Tussen, viele jedenfalls, und wenn ich eine Tussi euphemistisch ein Mädchen nenne, gewinne ich nichts und verliere Manövrierraum in den Gebieten, wo es meinen Belangen und Wünschen an den Kragen gehen könnte.
Was ganz Ähnliches war Philip aufgefallen, als er Robert Rolfs neue Freunde kennenlernte, auf Besuch in Köln, vor fünf Jahren – wie die nichts auf der Welt je ungerecht, schlimm oder böse fanden, aber alles »nervig«. Albern war das natürlich, aufgesetzt mondän, kopfschwach affektiert: Als ob sich das Universum für ihre kümmerlichen Innervationen interessieren müßte, als ob das irgendein Maßstab wäre, was Herrn Hornbrille und Frau Handtäschchen irritiert.
»Dazu, ich weiß es doch selber, hätten wir ›bürgerliche Dekadenz‹ gesagt, zu unseren besseren Zeiten«, gestand ihm Robert, als sie morgens gegen sechs, nach einer umfänglichen Kneipentour mit Herrn Hornbrille und Frau Handtäschchen, endlich allein waren miteinander, auf dem Heimweg zu Roberts absurd schäbiger Chefredakteurswohnung. »Aber wer in den Schützengräben dieser bürgerlichen Dekadenz für was anderes agitieren will, muß die Sprache der bürgerlichen Dekadenz sprechen, nicht anders als die Bolschewiki mit den Kosaken und den Frauen vom Todeskommando die jeweils ihre redeten.«
Einverstanden, sogar heute noch, nach dem völligen moralischen und somatischen Zusammenbruch, dachte Philip hustend und griff sich eine nicht ganz so alte Faith No More aus dem Koffer. Solange man über dem Sprechen der Sprache der Lage nur nicht den Dialekt vergißt, den man geredet hat, als man anfing zu begreifen, was wirklich los ist. Denn in den Konventionen jenes Dialekts ist dieses Wissen, dieser Erstkontakt mit der Gewalt und dem Urbösen für immer aufgehoben. Im Dialekt des ersten Erwachens kann man lebenslang Wahres sagen, deshalb muß man achtgeben, daß man nicht verlernt, Sätze damit zu formulieren.
Philip legte die FNM auf und plazierte die Nadel präzis auf der Rille zwischen zwei Songs, dann ging er zurück zur Sofagarnitur, genau in dem Moment, als Mike Patton anfing zu spucken:
Go on and wring my neck
Like when a rag gets wet
A little discipline
For my pet genius
My head is like lettuce
Aha. Na ja. Na klar: Ich sitze schon zu lange nur noch da und warte auf die Stunden, nicht mal auf Astrid, soweit sie aber nicht kommen, gehe ich in die Stadt und suche die letzten Freunde, es gibt die kaum, nur manchmal finde ich zum Beispiel den Hausmeister Schippel vom Gymnasium, der uns die Stühle und Tische geschenkt hat, für den Treff, der schon Frau Flasch die Stühle und Tische geschenkt hat.
Er hätte uns wahrscheinlich sogar eine Tafel und Kreide besorgen können, wenn wir das gewollt hätten. Warum habe ich ihn nie danach gefragt?
Den Schippel fand Philip manchmal in der Billardkneipe,
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