Für immer in Honig
beschämende Sachverhalt. Der dritte: Michaelas Anwältin, mit der Abwicklung aller Scheidungsformalitäten betraut, teilte die zitierte Drei-Punkte-Einschätzung der Lage und machte sie gerichtsbekannt.
Verwahrlosung ahoi: Philips Unterricht hielt sich immer seltener an die Lehrpläne, die vom baden-württembergischen Kultusministerium stammten, und stattdessen immer häufiger an solche, die das Zentralkomitee der okkultistischen Geometriepartei der psychotischen Volksrepublik Philip Klatt beschlossen hatte, die seinen Namen nicht deshalb trug, weil Philip sie entdeckt hatte – obwohl auch das der Fall war –, sondern weil er sie als ihr einziger Bürger bewohnte und nicht mehr rausfand. Seiner fast schon angeordneten, jedenfalls empfohlenen amtsärztlichen Untersuchung und anschließenden Frühverrentung als Säufer und Geisteskranker samt möglicher Einweisung in die Ge schlossene kam Philip immerhin durch eine saubere Kündigung und den übereilten Aufbruch aus seiner Wohnung zuvor. Andere rechtliche Komplikationen versuchte er mit einem Brief an Michaelas Scheidungsanwältin zu unterlaufen, in dem wenig mehr stand als: »Ich bin verrückt, aber mit allem einverstanden, unterschreibe alles, zahle alles, will aber von nichts sonst was wissen, schönen Gruß an meine baldige Exfrau.«
Seinen Seelenfrieden, oder wenigstens einen würdigen Abgang, hoffte er danach in der Stadt seiner Herkunft und Kindheit erlangen zu können. In der Gefahr, die er kannte.
Auf diese Idee verfallen war er dank eines Anrufs, der ihm anderthalb Wochen nach seinem sauberen Brückenabbruch in Sachen Leben passiert war. Seine alte Mathematiklehrerin, die nun schon schwer gebrechliche Frau Flasch, die er in der letzten Dekade mindestens ein- bis zweimal pro Jahr, auch nach dem Tod seines verwitweten Vaters 1998, gesprochen oder gesehen hatte, teilte ihm Betrübliches mit und brachte ihn dadurch unbeabsichtigt auf den ersten vernünftigen Gedanken, den er seit anderthalb Jahren gehabt hatte. Der pensionierten Dame war eine Tür zugefallen, eine Lebensaufgabe entglitten, genau dadurch öffnete sich nun eine Tür für Philip.
Daß die Aufgabe, um die es ging, gefährlich war, schmälerte nicht die Verlockung, sie in Angriff zu nehmen: im Gegenteil. Hauptsache, sie war sinnvoll. Sinnlosigkeit hatte Philip genug geschmeckt: Was konnte sinnloser sein, als jede Nacht, alleine vor dem Kasten, Harald Schmidt mit einer Flasche Wodka zuzuprosten?
»Ich kann’s einfach nicht mehr machen«, hatte Frau Flasch geklagt.
An Mut fehlte es nicht – den hatte sie immer für zwei gehabt, erinnerte sich Philip: Wer mit unserer Klasse, ja überhaupt mit den Kindern an unserer Schule zurechtkam, bewies genug davon.
Er fragte: »Warum nicht?«
»Es geht halt nimmer. Vor allem, weil jetzt auch noch Isabella wegzieht. Die hat sich bei den Kindern wenigstens immer Respekt verschafft, das war … Mich haben sie zwar nie angegriffen. Wer eine alte Tante wie mich angreift, gilt als … ›Weichei‹, so heißt das doch, oder?«
»So heißt das«, stimmte Philip nicht ohne Rührung zu.
Er war, als das Telefon geklingelt hatte, kurz nach 19 Uhr, schon ein bißchen angezwitschert gewesen, und gab sich jetzt die größte Mühe, jedes Wort so klar und deutlich auszusprechen, als ginge es um fernmündliche Anweisungen für eine Hirnoperation.
»Tja, ohne Isabella … Philip, ich habe richtig Schiß, was aus den Kindern wird.«
Das konnte er ihr nachfühlen. Den Stadtoberen war das winzige Jugendzentrum nie besonders lieb gewesen – es hatte schon existiert, als er mit Robert Rolf, Karl Dorgart und Jennifer Brunner noch Flaschs Matheunterricht besucht hatte.
Der »Zuschuß kommunaler Mittel«, mit dem es rechnen konnte, war eine Beleidigung, das hatte ihm die ehrenamtliche Zentrumsleiterin oft genug vorgerechnet, und was an privaten und Firmen-Spenden dazukam, reichte »hinten und vorne nicht« (Frau Flasch).
Außer der alten Dame schmiß den Laden seit drei Jahren, als der letzte männliche Helfer, ein privater Musiklehrer und Rocker, bei einem Motorradunfall ums Leben gekommen war, nur noch die Tochter des befreundeten Religionslehrers Ackermann, Isabella.
Die Frau war Mitte Zwanzig, sehr stämmig, und hatte sich bis jetzt in vorbildlicher Weise dafür verantwortlich gefühlt, daß die Teeküche dampfte, die winzige Bibliothek nicht zu zerfleddert war, kaputtgeschlagene Tische oder Stühle ersetzt wurden und der Krankenwagen kam, wenn mal eine Situation
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