Für immer in Honig
Ortes war mir jahrelang synonym mit: da, wo die grinsenden Toten rumlaufen. Ziemlich schlimm also, und dann hieß es eine Weile: Wohnen bei ihm. Endlich kam sie raus aus dem Irrenhaus, aber nicht nach Hause, ich also ab und zu an Wochenenden auf Besuch zu ihr, und plötzlich blieb ich dort. Sie hatte einen Job, war wieder auf dem Damm, er dagegen rutschte ab, unter beru flich em Druck, oder warum auch immer. Sie: Angestellte, eigentlich qualifiziertes Proletariat (lebt vom Verkauf der Arbeitskraft, na sagen wir: Facharbeiter), harte Zeiten, wenig zu Weihnachten.
Und dann der Umzug vom Berg runter ins Tal, in die Stadt, wo ich Jenny, Philip und die andern kennengelernt habe. Die blöden Klamotten, die sie mir verpasst hat, weil sie billig waren oder selber gemacht – sein Unterhaltsschotter war angeblich zu wenig, er hat sich immer beklagt, ausgenommen worden zu sein, und eine Eigentumswohnung hat sie sich, während ich im Strickjäckchen rumgerannt bin, auch gekauft. War aber vernünftig, unberufen: Als ich selber erwachsen wurde, war mir schnell klar, daß man jedes bißchen Eigentum gebrauchen kann, sonst erpressen sie einen lebenslang.
Weniger vernünftig waren die Schläge und das Geschrei, mindestens einmal die Woche, von wegen: Räum auf, sonst kommt die Frau vom Jugendamt und nimmt dich mir weg, Hure Scheiße, Sauerei, Bengel, Schlamperei, irgendwas mit Knochenkotzen auch noch, aber jedenfalls ein feststehendes Repertoire, und natürlich der gute alte Kochlöffel, am liebsten auf die Arme oder die Schulter oder ins Kreuz.
Und morgens, wenn der Streit ums Badezimmer eskalierte, Masterfrage: Wie lang man da drin bleibt, bevor es knallt. Ordentlicher wurde mein Zimmer davon nicht, das kam erst, als ich anfing, mir Massen von Büchern zu kaufen, vom Geld, das mir der Alte an den Wochenenden, zwei Besuchseinheiten pro Monat, immer zugesteckt hat. Da wollte ich sie mir dann »einräumen« und habe das alte Zinnteller-Bord aus der letzten gemeinsamen Wohnung der Eltern als Grundbaustein eines Bücherregals und erste Setzung eigener Ordnung in Besitz genommen. Dreck-Ecken gab es trotzdem, in dem Zimmer, denn ich fand, mein Zimmer geht mich nix an, dieses ganze Leben geht mich nix an, ich habe mir das nicht ausgesucht, hier zu sein.
God damn fascist sons of bitches.
Warum habe ich angefangen, mir so viele Bücher zu kaufen?
Weil ich einmal eins in die Finger bekam, mit einer Geschichte von Harlan Ellison drin, ein Heyne-Science-Fiction-Kurzgeschichtenbuch, und plötzlich merkte: Das hat einer geschrieben, das ist absichtlich so offen gelassen am Ende, daß man selber raten muß, was aus dem Helden wird, da wurde nicht einfach was abfotografiert, wie bei diesem schrecklichen Hemingway, den die debile Alte las: Sieh den alten Mann. Sieh den großen Fisch. Fang den großen Fisch, alter Mann, fang den großen Fisch.
Nein, hier, bei Ellison, war alles anders, und auf einmal wurde eine Erinnerung in mir angeklickt, die Sache mit dem Aufsatz über die Katze.
Und etwas rastete ein, massel tov, und etwas fing an, kam zu mir, zu sich selber.
Ein neuer Refrain:
The switch is on
The switch is on the switch is on
The switch is on the switch is on
The switch is on the switch is on
The switch is on the switch is on
Plötzlich war es nicht mehr so wichtig, daß man auf dem Weg zum Judo aufpassen mußte, nicht von den Scheißasozialen vor der Jugo-Kneipe abgepaßt und verdroschen zu werden, weil sie einem beweisen wollten, daß sie, die noch ärmer waren als man selber und deshalb kein Geld für Judo hatten, auch einen richtigen Judo-Jungen windelweich hauen konnten, nämlich zu viert; als wäre das nötig gewesen, als hätte ich beim Judo was anderes gelernt außer Michverbeugen und Richtighinfallen. Plötzlich blieb ich, der eh schneller lesen gelernt hatte als andere und vom Lesen sofort begeistert war, abends immer öfter daheim.
Zum Lesen, zum Lernen.
»Schreib das mit dem Aufsatz über die Katze auf, Robert.«
Ja, Chef, kommt schon noch. Nur nicht hudeln.
Siebenhundertneunzehnter Tag
Ich habe angefangen, mich mit Karin anzufreunden. Sie läßt mich sogar mit John (der die Glyphen scheinbar faszinierend findet und immer anfassen will) und dem älteren Simon alleine.
Kinder sind das Seltsamste überhaupt an so einem Ort, in Wallensteins Lager. Ich spiele Mühle mit dem Älteren, und lese dem Jüngeren was aus »Oliver Twist«, was er, glaube ich, versteht und mag (meine schöne Stimme wird’s nicht sein). So
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