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Für immer in Honig

Für immer in Honig

Titel: Für immer in Honig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dietmar Dath
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Universitätshospital von Port-au-Prince. Das wurde 1918 gegründet, als die Marines das Land schon mal besetzt und regiert haben – ein riesiger Komplex aus klotzigen Betongebäuden im Zentrum der Stadt. Ich dachte, als ich da reinging: Hat das hier überhaupt geöffnet? Mein haitianischer Führer und ich, wir gehen da also rüber in den pädiatrischen Flügel. Es war ganz still da. Keine Babys, die weinten. Obwohl doch gerade das Rotfeuer viele Kleine trifft … aber nein, keine kranken Kinder. Und dann gingen wir rein: keine Ärzte, keine Schwestern oder Patienten, so weit wir sahen. Es gab nur einen jungen Pfleger, und der erklärte uns, daß die Ärzte gerade einen Streik beendet hätten, und die Schwestern jetzt einen eigenen anfingen. ›Aber wo sind die kranken Kinder hin?‹ fragte ich meinen haitianischen Führer. ›Die sind nach Hause gegangen. Zum Sterben.‹«
    3  Die Neusiedler waren dankbare Menschen, sie wußten, daß es ein Glück für sie gewesen war, daß die zu jenem Zeitpunkt gerade noch handlungsfähigen Vereinten Nationen ihnen auf Empfehlung der Vereinigten Staaten und der wichtigsten Staaten der Europäischen Union die Insel als Asyl angewiesen hatten.
    Ironie des Schicksals: Kaum hatten sie sich ein wenig eingelebt, deuteten Nachrichten aus der Heimat, also besonders aus Kontinentaleuropa, Afrika und den ehemals »Tigerstaaten« genannten Regionen Asiens darauf hin, daß das Projekt, dem sie ihre »Umtopfung« (so Jürgen humorig bei der Ankunft am Flughafen von Port-au-Prince) verdankten, vielleicht ein bißchen voreilig gewesen war.
    Die Zombies wichen zurück, das Militär stabilisierte die Lage.
    »Man wird geglaubt haben«, führte Jacques, jene Nachrichten zusammenfassend, auf einer der abendlichen Zusammenkünfte der tonangebenden Neusiedler in einem repräsentativen, aus der späten französischen Kolonialzeit stammenden Herrenhaus am Rande der Bezirkshauptstadt Les Cayes aus, »daß sich die ›Alt­euro­pä­er‹, wie uns Herr Rumsfeld verspottet hatte, umsonst gesorgt hatten, daß ihre Künstler und Intellektuellen, ihre Debatten und Utopien im Gefolge des Kataklysmus, den wir erlebt haben, vom Erdball verschwinden und damit für das Denken dessen, was noch nicht ist, im Namen dessen, das tot war und wieder wurde, ein Verlust stattgefunden hat, den man schwer wird beschreiben können, der aber vielleicht, nur vielleicht – ich rate hier, ich spreche hier im Dunkel des Phänomens, das wir als den Totentanz zu bezeichnen uns angewöhnt haben – eine größere Katastrophe bedeutet hätte als die vergleichbaren Vorgänge des Zweiten Weltkriegs, bei denen es immerhin doch eine Emigrantenkultur, ein Gespräch über das Verschwundene und das, was sich daran hätte ­an­schließen können, wenn es nicht verschwunden wäre, gegeben hat. Und auch wenn diese Besorgnisse nun, da wir von der Wiedereroberung der Städte durch das Militär, durch die NATO , durch Monsieur Reuland und seine freien Verbände hören, vielleicht unbegründet waren, das wissen wir nicht, das wird abzuwarten sein, aber selbst, sage ich, wenn dem so wäre, und viele von uns sich unter dem Eindruck dieses Kommenden nun vielleicht rüsten, in jene Städte zurückzukehren, von denen man dann nicht sagen kann, wir hätten sie jemals aufgegeben, wären jemals zur Aufgabe, zur Preisgabe bereit gewesen, so lassen Sie mich doch fragen – ich kenne die Antwort nicht, ich tappe im Dunkeln, das sage ich noch einmal, man wird es hören, hoffe ich –, ob es nicht ein besseres Zeichen der Zukunft ist, daß sich die Staaten dessen, was wir Abendland genannt haben werden, und das seine Geistesmacht zu lange auf seine Waffenmacht gestützt hat, im Moment ihrer größten Bedrohung damit befaßt haben, wie dieses Gespräch geschützt und gerettet werden kann, wie dieses Gespräch verlegt, verschoben, schützend aufgeschoben werden kann, ein besseres Zeichen, sage ich, undeutlich, weil ich es nicht deutlicher weiß, als die Rückeroberung der Städte selbst, denn diese schreibt nur eine alte Geschichte fort, aber das Projekt, Künstler und Intellektuelle der Regionen, die am stärksten von den Phänomenen des Totentanzes heimgesucht worden waren, auf einer Insel, die durch eine andere Katastrophe, der wir uns nur erst annähern wollen, anzusiedeln, sie dort in Sicherheit zu bringen, ist der Beginn von etwas Neuem, das Eingeständnis, daß es Enklaven geben muß, daß das Weltkulturerbe, wie der Ausdruck früher bestimmte

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