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Für immer in Honig

Für immer in Honig

Titel: Für immer in Honig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dietmar Dath
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Gebäude und materielle Dispositive nannte, auch aus Gesprächen besteht und Menschen, die sie führen.«
    Der alte Mann mit den wie fahle Flammen vom Kopf in den Äther seiner Gedanken emporlodernden weißen Haaren hatte das würdig genug gesagt; die Rührung im Saal war groß, nicht nur bei den Ärmeren unter den deutschen, spanischen und französischen Neusiedlern, die in letzter Minute über Institutionen wie die Bundeskulturstiftung, das Institut Cervantes, regionale Kultusministerien oder das Institut Français ein Ticket auf die Insel hatten erhaschen können. Zwei Staaten hatten sich die Insel früher geteilt, Haiti und die Dominikanische Republik. Jetzt teilten sich die Exilanten, was von beiden übrig war.
    Jürgen applaudierte seinem Freund, bis sich seine Handflächen röteten. Dann räusperte er sich und sagte: »Ich möchte in dem Sinn, nicht wahr, den wir hier gerade zusammen hergestellt haben, und der eben kein Sinn eines Subjekts ist, das wir repräsentierend setzen – wir sprechen nicht ›für die Intellektuellen‹, wir sprechen ›als Intellektuelle‹ – ich möchte eine Resolution anregen, die zeigt, daß wir uns bewußt sind, daß wir sehr viel Glück gehabt haben, und auch wissen, daß andere, nun ja, weniger Glück gehabt haben.«
    Murmeln, abwartende Körperhaltungen, leichte Verwunderung auf einigen Mienen, wissendes Lächeln bei Jacques.
    »Ich meine damit, daß einige von uns sich vielleicht schon einmal Gedanken darüber gemacht haben, daß es uns ohne die Geldmittel der Kreuzerstiftung, die Frau Jeanne Alber für die Siedlungen bereitgestellt hat, ebensowenig möglich gewesen wäre, hier unsere neuen Lebensmittelpunkte einzurichten, wie es vermutlich schwieriger, vielleicht aber auch anregender geworden wäre, in eine existierende menschliche Lebenswelt einzuschreiben, was wir zu sagen haben, statt auf diese Insel, die sich vielen von uns anfangs als ein von Geisterstädten übersätes Land, ein entvölkerter Planet präsentiert hat. Man hat uns gesagt, daß das schwere Unglück der ehemaligen Bewohner Haitis, von denen nur noch so wenige, so arme, so junge übrig sind – wir kennen die Kinder, die für uns arbeiten, wir kennen die Familien, die nicht ihre sind –, unser Glück war: Als die Verantwortlichen der Kreuzerstiftung mit den ­UNESCO - und U N -Beauftragten für das Umsiedlungsprojekt berieten, welche Weltgegend überhaupt in Frage käme, jene Künstler und Intellektuellen aus vom Totentanz besonders bedrohten Zentren der Zivilisation aufzunehmen, fiel die Wahl eben nicht auf ein Land, in dem der Totentanz vergleichsweise wenig wütete, wie etwa Kanada, Island oder gewisse eigenartige Gegenden Australiens – man weiß noch immer nicht, warum diese Orte weitgehend verschont blieben, es herrscht hier das Dunkel, von dem unser Freund eben gesprochen hat –, sondern paradoxerweise auf eine Insel, wo der Totentanz gerade besonders heftig, besonders schlimm zutage getreten war, und eine überforderte Regierung zu so brachialen Methoden seiner Bekämpfung gegriffen hatte, daß zwar tatsächlich sehr schnell keine lebenden Toten mehr zu sehen waren, aber auch sehr viele Menschen ihr Leben verloren – anders als in Europa, Asien, Rußland, wo man angeblich moderne Waffengattungen wie die biologischen und die chemischen ohne nennenswerten Erfolg gegen das Unheil aufgeboten hat, wurden hier altmodische Flächenbombardements und wütende Bodentruppen eingesetzt, Städte einfach niedergebrannt – die Hälfte von Port-au-Prince ging so verloren, wir werden sie aufzubauen haben –, Landstriche entvölkert, bis die UNO eingriff. Das Ergebnis war, wenn Sie mir diesen sarkastischen Begriff verzeihen wollen: Tabula rasa.«
    Husten, Räuspern, nervöses Lachen, vorsichtige Blicke zur Nachbarin und dem Nachbarn: War das ein Scherz? Auch Jürgen räusperte sich erneut, dann nickte er, als hätte ihm der liebe Gott was zugeflüstert, und sagte langsam: »Aber wir wollen unserem Glück gerecht werden, wir wollen sein, was die von uns glaubten, die uns hierhergebracht haben: Gedächtnis und Gewissen. Deshalb lassen Sie mich nun ein von Jacques und mir erdachtes Projekt vorstellen: das Archiv der haitianischen Katastrophe – oder weniger grandios ausgedrückt, die Erforschung dessen, was hier geschehen ist, unmittelbar, bevor wir kamen.«
    Großer Beifall, erhebende Gefühle, Rechtschaffenheit in jedem Gesicht, Freiheit, Gleichheit, hervorragende Häppchen am Buffet.
    Haiti und die

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