Für immer in Honig
bekannt war: Judith Neu mann, die arbeitet hier und auf der Baustelle für den Tempel. F-4-10-7-100-95 wußte so vieles, ohne es eigentlich zu wissen. Trotzdem: Was der Ex-Bürgermeister hören wollte, das wußte F-4-10-7-100-95 leider nicht. Deshalb wurde weiter experimentiert, mit Festbinden auf dem Stuhl und Wassertropfen auf die Stirn fallen lassen, mit Licht in der Zelle – erst war es tagelang an, dann tagelang aus, dann flackerte es –, mit Wasser- und Nahrungsentzug, mit heißen Sachen an den Fußsohlen, mit Schläuchen im Hals, mit Strom, immer immer wieder mit elektrischem Strom. Wenn ihnen gar nichts sonst einfiel, mochten sie das wohl am liebsten: elektrischen Strom. Dumme Leute, die Quäler.
Tränen schmeckten salzig, Blut schmeckte kupfern, Kotze schmeckte bitter.
Zuwenig Finger, das war der Punkt, zu wenige wie viele viel zu wenige.
Lange hörte F-4-10-7-100-95 nichts mehr von Judith Neumann. Hatte man sie versetzt, wegen Fraternisierens oder auch bloß einer harmlosen Mitleidsregung, hatte man sie gegessen?
Die größte Liebe, dachte F-4-10-7-100-95, mit dem Gesicht auf dem Steinboden, fand ich bei solchen, so das Gesetz übertreten.
4 Ich hatte die immer, diese Schuldgefühle, im Kindergarten ging das los, ich hatte das ewig. Daß ich wo hinkam, und da ist irgendwas passiert und ich dachte, es wäre meine Schuld und ich hatte dann wochenlang ein schlechtes Gefühl. Wie das zusammenhängen soll, weiß ich nicht. Zum Beispiel hatten wir ein Mädchen im Kindergarten, Michaela, die hatte Krebs, oder vielleicht war das auch schon in der Schule. Einmal hab’ ich die gehänselt, ich war ja auch ein ziemlich vorlautes Mädchen, große Klappe hatte ich schon immer, wollte immer ganz stark sein. Und die war natürlich schwächer als ich, aber ich glaube, die hat das gar nicht gemerkt, wie ich sie gehänselt habe. Die hatte immer denselben Kindergarten- und Schulweg wie ich. Hab’ sie angemacht, wegen der Brille oder was. Dann ist das Mädchen an Krebs gestorben, und ich war felsenfest davon überzeugt, daß ich sie umgebracht hab. Weil … ich hab das natürlich keinem erzählt und hab’ mir da tierisch in die Hose gemacht, daß das jetzt meine Schuld war.
5 Schade eigentlich, dachte F-4-10-7-100-95, als der Folterknecht den kaputten Körper übern Boden schleifte, an den langen klebrigen Haaren, die vorn am Kopf immer öfter von getrocknetem Blut zusammengeklebte dicke Strähnen waren, sehr schade, daß der ursprüngliche Plan Daniel Libeskinds, in den Ausstellungsräumen Parkettböden einzusetzen, nicht verwirklicht wurde.
»Und du wirst mir’s sagen! Du wirst mir’s doch sagen! Und wenn es Jahre dauert!« schrie der Vorgesetzte und peitschte den Rücken des Gefangenen. So war das andauernd, seit dem ersten Gang auf die Treppen raus, seit dem ersten Sturz die Treppen runter. Es wäre aber sicher angenehmer gewesen, über Parkett geschleift zu werden. Als danach der gefangene Körper in seine Zelle zurückgeworfen wurde, lag er lange auf dem Rücken, die Arme angewinkelt und die Hände abgeknickt, in denen fast kein Blut mehr war. Lag da nicht mehr Maus im Eck sondern nur noch wie ein Käfer und wußte, weil es so still war, daß die Gefangene in der Nebenzelle linkerhand, F-1-6-8-35-78, während seiner Abwesenheit zwei Stockwerke tiefer bei Geständnis-Erzwingungs-Experimenten mit Wassertanks ertrunken war.
Jetzt bin ich also allein auf dem Stockwerk, dachte F-4-10-7-100-95 enttäuscht, es gibt einfach zu wenige politische Gefangene unter diesem Regime, weil es nicht einmal mehr herrschen will, sondern nur noch quälen, zerstören und fressen.
»Sind Sie noch da?« sagte die Stimme im Schlitz.
»Hchhh … neee … nich … mehr … rrchh … richtig …«, machte F-4-10-7-100-95 sich lustig, ganz schön abstrakt.
Judith Neumann sagte: »Ich komme nächste Woche wieder. Ich bringe Ihnen Traubenzucker und Eisentabletten. Ich rühr’s ins Essen. Sonst sterben Sie. Sagt man mir.«
Dann war sie weg, und der Gefangene dachte: Ich blute schon wieder an dieser Stelle, wo man mir nicht wehgetan hat, was ist das wer bin ich wie viele Finger? Und was hatte sie damit gemeint: »Sagt man mir?«
Wer, die Quäler?
Schlafen. Nicht mehr fragen. Wer oft genug geschlagen wird, wenn man ihn oder sie was fragt, der oder die hält Fragen irgendwann für etwas, das immer mit Schlägen zu tun hat.
6 So Sachen kamen ständig vor. Einmal – in Sonnenthal gab es außer dem Kalten Markt auch sonst
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