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Für immer in Honig

Für immer in Honig

Titel: Für immer in Honig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dietmar Dath
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aus grob abgestuften Echos.
    Die vielen Treppen, dachte F-4-10-7-100-95 nach dem ersten Jahr in Gefangenschaft, sind jetzt in meinem Kopf, ich stoße meine Erinnerungen die Stufen runter, wie man mich selber andere Stufen hochzieht, wenn ich nicht will, daß sie an meine Beine stoßen, an mein Rückgrat, bis ich ganz grün und blau bin. Schmerz gab’s chemisch da im Kerker und elektrisch, oder als metallenes Ei im Hintern, durch das Stromstöße geschickt wurden, oder als purpurne Flecken auf der Haut, die manchmal schwarz wurden.
    Was man wurde: die Druckstellen, der Hunger, der Durst, wie metallische Klammern im Hals, die sich öffnen und schließen konnten. Manchmal war es unverständlich: Kann ich das noch spüren, wie viele Finger habe ich an welcher Hand, was ist das für ein gelber Schleier vor meinem Blick, warum werden meine Zehen so weiß, wie viele Finger, das häufige Blut, mit dem irgendwas gesagt sein sollte – bin ich, wer ich zu sein glaube? Warum kann ich dann so bluten, was ist das, was sind das für Sachen aus Watte, die Blutung zu stillen?
    Wie viele Finger, viele Finger, Finger. In einem der Räume mußte man senkrecht stehen, stundenlang oder vielleicht, warum nicht, auch jahrelang. Bei dem Gedanken mußte F-4-10-7-100-95 leider schon wieder mal kichern, obwohl es klar war, daß sich das nicht gehörte, unter der Folter. Da packten die Zuständigen wieder ihre Harken und Dornen aus, die strengen Männer ohne Kinn, die bissigen Männer mit offenen Bäuchen und blauen dicken Zungen im Mund, wie viele Finger. In diesem Raum gab es Licht von oben, aus der Ecke. Das sah schön aus, wie direkt von Gott, nämlich entrückt, als ob es dem Schimmer egal wäre, worauf er scheint, weil sowieso alles vergehen mußte. Und auch das Fleisch und auch das Blut wie viele Finger.
    Tritte in die Seite taten am Anfang am meisten weh, Schläge gegen den Hals auch, und Fragen, weil es darauf keine Antwort gab: »Wo sind die Discs? Wo sind die Minidiscs? Wo sind sie?«
    Denn den Apparat hatten sie gefunden, aber ätschbätsch die Datenträger dazu nicht.
    F-4-10-7-100-95 spürte was wie Orientiertheit, das tat wohl: ein Bewußtsein von der gezackten Struktur des Gebäudes, von den Stockwerken über Grund und den Achsen des Kellers, das nicht allein davon herrühren konnte, daß F-4-10-7-100-95 (Bin ich ein Mann oder eine Frau? Das Blut muß weg wie viele Finger) nun schon in einige, wer weiß die meisten der überhaupt zugänglichen Räume geschleppt worden war, vor allem während des ersten halben Jahres.
    Ich weiß wohl, wo, aber nicht, wer ich bin.
    Den Grundriß hat der Architekt zerbrochen, aus einem Davidsstern herausgeklappt, in die steilen Wände ist extra viel Absicht gekerbt und Konzept, dort in den halben Räumen, den Schächten der Erinnerung, hatten die neuen Herren der Stadt aber jetzt Leute gehängt, oft mit den Köpfen nach unten.
    Einmal führte man F-4-10-7-100-95 unter Betonstreben durch in einen dieser voids – so hatte ihr Erfinder sie getauft –, wo zwei andere Gefangene, F-8-7-9-75-59 und M-1-2-1-15-50, als Schaustücke gerade umgebaut wurden. Der letztere hatte schon keine Augen mehr, der Brombeersaftrand um die leeren Höhlen verriet F-4-10-7-100-95, daß sie noch nicht lang ausgestochen waren. Den Mund hatten Fachleute zugenäht, so kam statt Geschrei nur eine Reihe schluckender Geräusche raus.
    F-8-7-9-75-59, eine ältere Frau mit lichtem Seidenraupenfadenhaar, lag auf einer Streckbank, konnte noch gut schreien, was sie bewies, als man sie mit einer Geflügelschere aufschnitt, langsam, leider schmutzig, naß in mehreren Sorten Flüssigkeit, es ging bestimmt zwanzig Minuten. Dann, als das endlich fertig war, sagte der große Zombotiker, der F-4-10-7-100-95 während der ganzen Veranstaltung aufrecht gehalten und gelegentlich geschlagen hatte, wenn er bemerkte, daß F-4-10-7-100-95 nicht richtig hinschaute, der Blick sich vielleicht verschleierte oder die Gedanken wanderten: »Ich hoffe, du begreifst, was du hier gesehen hast, Freddy. Wir können dasselbe mit dir machen, wenn wir wollen. Sag uns, wo die Discs sind, und es ist vorbei – du weißt sonst nichts, bist nicht gefährlich, wir lassen dich raus, in die Stadt. Du wirst ein ganz normaler Berliner Bürger, ist das nicht besser? Willst du das nicht? Du bist kein W, also warum hilfst du denen?«
    F-4-10-7-100-95 kämpfte gegen kindischen Lachzwang: Du brüllst mich an, Ex-Bürgermeister, warst mächtig in deiner kleinen Stadt, weil

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