Für immer in Honig
Aschenbecherrand am hölzernen Lesebrett, verließ die Kanzel und den Saal, während Leute husteten, ein paar leise zischten, murmelten oder schimpften und Jacques, noch immer milde lächelnd, sich kopfschüttelnd die Brille putzte, als wollte er sagen: Schade um den armen Mann, wirklich schade, man hätte diese sehr interessanten Fragen doch sehr gern mit ihm diskutieren wollen, aber jetzt hat er sich in die Abwesenheit begeben, jetzt hat er sich doch sage und schreibe wirklich selber ausgegrenzt.
2 Das Referat von Dieter Fuchs wurde viel besser aufgenommen.
Vor Redebeginn herzwürgend nervös, von Schweißausbrüchen gequält, empfand er dafür noch Tage später außerordentliche Dankbarkeit. Nach dem unerfreulichen Pohrt-Auftritt war der Raum statisch mit einer Art freischwebender Gehässigkeit aufgeladen, etwa so wie ein Gesicht, auf dem sich schlechtes Gewissen mit Irritation über eine Protokollverletzung darüber einigen will, welcher Regung die Kontrolle über Mundwinkel, Augenbrauen und Wangentemperatur zugesprochen werden soll. Der Vortrag, wie der von Fuchsens aggressivem Vorredner durchgängig auf deutsch gehalten und für dieser Sprache nicht mächtige Besucher simultan übersetzt, begann stockend: »Meine … meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte äh ein, ich werde das Thema, das vorgegebene Thema verlassen oder eine Art Tangente … Sie bitten, mit mir eine Art Tangente zu äh zu zu betreten, die etwas weiter in die Vergangenheit … Vergangenheit der Vorgeschichte, eines auch sozusagen mythischen, in diesem Sinne vorgeschichtlichen Vorspiels der Entwicklung führt, die wir hier als eine Art … also, es geht mir darum, was die Menschen, die hier kaum noch leben, gewußt haben, gewußt haben können, und daß dieses äh dieses Wissen dieser Leute, dem ich mich über eine Art Archäologie dieses Wissens nun zu nähern … zu anzunähern versuchen will … ich meine das afrikanische Wissen. Dies ist auch der, der Titel meines Vortrags. Das afrikanische Wissen. Ich habe mit, mit Leuten gesprochen hier, mit einigen wenigen, den wenigen hier ansprechbaren Leuten gesprochen, die also Zugang haben noch zu Resten dieses Wissens, die auch schon mit Ethnomedizinern gearbeitet haben … Leute aus den Gemeinden der Voudon-Priester, Anhängern dieser Sekten, und habe die Bibliotheken konsultiert, die aus aus Papier, die die, die Bücher und die virtuellen, was in den Archiven von vor allem … vor allem von Port-au-Prince noch zu finden war, an der Universität, und das hat sich zusammengesetzt, zu einem Bild zusammengesetzt, in dem das Wissen über Gifte, über die chemischen und biologischen Kampfstoffe der älteren, der mythischen Welt die entscheidende Waffe war, immer war, im antikolonialen Kampf hier. Schon 1978 – das ist ein kennzeichnendes Datum, die … das mir hierbei begegnet ist – also, schon vor der Französischen Revolution, mit der aus bestimmten Gründen, über die ich vielleicht nicht so ausführlich reden werde können heute abend … schon lange vor dieser Revolution also gab es einen Erlaß der Kolonialmacht, der königlichen Macht Frankreichs, die den Sklaven den Umgang mit ihren aus der Botanik und der Fauna gewonnenen Folk-Pharmazien untersagen wollte … Die Sklaven haben die Weißen vergiftet, die Sklaven haben auch einander vergiftet, wenn es Aufstände gab, nämlich die Kollaborateure, außerdem auch solche, die neutral zu bleiben versuchten, einfach um die Herren zu schädigen. Die hat man vergiftet, auch äh, die hat man auch vergiftet, wie die die die Weißen. Und hier äh stieß ich also auf das interessante Zeugnis, das gleichsam das Motto meines Vortrags sein könnte …«
Er schaute vom Manuskript auf und sah, daß sich die Stimmung geändert hatte: Man war jetzt wieder aufmerksam, liberal und tolerant, die schlechte Laune, die Pohrts kindische Provokation erzeugt hatte, war verflogen, die Menschen, inklusive der wohlwollend nickende und rauchende Jacques und sein Beisitzer, der mit geschlossenen Augen und leicht zur Seite geneigtem Kopf fasziniert zuhörende Jürgen, wollten wirklich wissen, was hier geschehen war, wie die genealogischen und epistemo-archäologischen Voraussetzungen lauteten, die es so weit hatten kommen lassen, und wie man so etwas in Zukunft vermeiden konnte. Dieter fand den so offensichtlich in Gesichtsausdrücken, Körperhaltungen und der großen Stille im Saal dokumentierten Willen zum Gedankenaustausch so beflügelnd, daß er sofort
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