Furchtbar lieb
entschlossenen Seufzer und machten weiter mit ihrem (modifizierten) Tagesablauf.
Für Kyles Mutter bedeutete dies, den Lagerraum für ausrangierte Möbel in seine ursprüngliche Form als das Schlafzimmer ihres einzigen Sohnes zurückzuversetzen.
Für Kyle bedeutete dies, seine Sachen zu packen und so schnell wie möglich abzureisen. Er würde nicht noch einmal mit Krissie sprechen, und er würde sich bei seiner Frau entschuldigen – wenn auch mit der Erwartung, dass weitere Diskussionen über ihre Anwälte laufen würden.
Noch ehe er seine Rucksäcke fertig gepackt hatte (er warf die Sachen einfach hinein), ging es ihm schon besser. Es hatte so kommen müssen. Es war unerfreulich, aber das wäre es immer gewesen, und jetzt konnte er zumindest etwas an seinem Leben ändern.
Sarah hatte sich immer daran gestört, dass Kyle die Fähigkeit besaß, sich aufzurappeln und weiterzumachen. Wenn sie stritten, stürmte sie unweigerlich zur Tür hinaus, und er fuhr unweigerlich fort, seine Zeitung zu lesen. Darüber ärgerte sich Sarah mehr als über alles andere. Er hätte ihr folgen sollen. Wenigstens hätte er einige Minuten in reumütiger Stille verharren sollen, um den angenehmen Abend zu beklagen, der ihnen nun entging. Aber nein, Kyle schien keine Zeit zur Erholung zu brauchen. Er wandte sich geradewegs den Leserbriefen zu.
Kyle verließ das Zimmer, ohne es nach eventuell vergessenen Sachen zu durchkämmen. Er schloss die Tür, ohne sich zu vergewissern, dass sie auch wirklich abgeschlossen war. Er unterschrieb die Rechnung, ohne sie zu prüfen, und dann nahm er von jeder Zeitung auf dem Sofatisch in der Halle ein Exemplar, ohne sich zu fragen, ob er das durfte.
Beschwingt spazierte Kyle zur Bushaltestelle. Er setzte sichauf die Bank und widmete sich dem Reiseteil des Herald. Da hatte er eine plötzliche Eingebung. Er konnte seinen Beruf aufgeben und reisen. Er und Sarah würden das riesige Haus in Glasgow und das Ferienhaus am Loch Katrine verkaufen, und er würde die 233 000 Pfund nehmen, von denen er vermutete, dass er sie bei der Scheidung bekäme, und zu Orten reisen, an denen er noch nie gewesen war. Er war so begeistert, dass er seinen Freund Derek anrief, um ihm die wichtige Nachricht mitzuteilen.
»Ich reise nach Bulgarien«, sagte er. »Du hattest recht. Alle Frauen sind gleich, und ich werde in dieses Bul-scheiß-garien reisen. Lass uns feiern, im Pub!«
»Würde ich gerne, Alter«, sagte Derek nach kurzer Anteilnahme. »Aber ich habe versprochen, in den Baumarkt zu gehen und Spaliere zu holen.«
Kyle legte auf. Er war ein bisschen deprimiert, aber er dachte sich: »Scheiß drauf! Wenn ich allein nach Bulgarien fahren kann, dann kann ich auch allein ins Pub gehen.«
Er fragte sich gerade, was er im Pub anziehen solle, als Krissie auf ihn zukam. Sie sah bleich und mitgenommen aus.
»Hallo«, sagte sie.
»Hallo«, antwortete er und wandte sich wieder seinem Reiseartikel zu.
Die beiden brachten es irgendwie fertig, bis zur Ankunft des Busses sechzig Sekunden später zu schweigen.
***
Krissie hatte beobachtet, wie Kyle aus dem Hotel getrabt war, und gewartet, bis sie den Bus durch das Tal kommen sah. Dann erst steuerte sie selbst auf die Haltestelle zu.
Sie hatte einen Plan. Er hatte sie blitzartig im Hotelzimmer ereilt. Einen klaren, klugen und vernünftigen Plan.
Sie würde nach Hause fahren, Robbie abholen und hoffen, das alles gutginge.
Was hätte sie sonst schon tun können?
Damit, dass sie gegenüber Kyle oder der Polizei ein Geständnis ablegte, war nichts zu gewinnen, aber alles zu verlieren. Folglich würde sie nach Hause fahren, ihr Leben weiterführen und hoffen, dass alles gutginge.
Als sie neben Kyle auf der Bank saß, erkannte ein Teil von ihr, dass dieser Plan undurchführbar war und einem Nebel aus Katerstimmung und Fassungslosigkeit entstammte. Er war nicht vernünftig, klug oder moralisch, und der Streit zwischen den Schwätzern in ihrem Kopf war bereits in vollem Gang:
Sag’s ihm!
Sag’s ihm nicht!
Sag’s ihm einfach.
Nicht.
Ich habe Sarah umgebracht!
Halt den Mund.
Aber ich habe sie umgebracht!
Sie war drauf und dran, damit herauszuplatzen, als der Bus eintraf. Gerade noch rechtzeitig.
Krissie saß allein. Sie drückte ihre Nase gegen das Fenster und blinzelte zurück zum Devil’s Staircase, einem unbedeutenden Schnörkel auf einem unbedeutenden Berg. Sie bildete sich ein, etwas zu sehen – einen violetten Tupfer vielleicht? Violetten Zeltstoff, der aus einer
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